Neben Arthur Honegger gehört Francis Poulenc (1899–1963) zu den noch heute häufiger im Konzertsaal präsentierten Mitgliedern der „Groupe des Six“. Entscheidende Eindrücke empfing er durch den spanischen Pianisten Ricardo Viñes, der ihn nicht nur auf dem Klavier ausbildete, sondern ihm Kontakte zu Komponistenkollegen verschaffte und ihn in die Pariser Gesellschaft einführte. Viñes war besonders durch seine Interpretation französischer und spanischer Musik berühmt geworden; er hatte Uraufführungen vor allem von Ravel, aber auch von Debussy, Satie sowie de Falla und Albéniz bestritten. Bei Poulenc, der auch als Pianist eigener Werke auftrat, bildet die Klaviermusik mit vielen charmant-leichtgewichtigen Beiträgen einen Schwerpunkt in seinem Schaffen. Zu seinen bekannteren Stücken gehören das „Konzert d-Moll für zwei Klaviere und Orchester“ (1932) sowie die „Toccata“ aus den „Trois pièces pour piano“ (1928), die Horowitz in sein Repertoire aufnahm.
Als neues Heft publiziert der Verlag Heugel (HE 33756) die Vorform der drei Stücke von 1928, die 1917 unter dem Titel „Trois Pastorales“ entstanden waren. Der Herausgeber Carl B. Schmidt berichtet in einem dreisprachig gedruckten Aufsatz (französisch, englisch, deutsch) über die Entwicklungsstufen von 1917 über 1928 bis zu einer endgültigen Fassung von 1953. Unter HE 30877 und HE 30880 legt Heugel aus der zwischen 1929 und 1938 entstandenen Sammlung zwei Nocturnes wieder vor, Nr. 4 (1934) mit dem Untertitel „Bal fantôme“, ein langsamer Walzer in C-Dur, in den Mazurka-Rhythmen eingeflossen sind, und Nr. 5 (1934) ist ein brillantes „Presto misterioso“ in d-Moll, dessen ursprünglicher Titel „Phalènes“ (Nachtfalter) nicht in der Partitur abgedruckt ist.
Eine wahre Entdeckung ist der 1913 in Köln geborene, bis heute fast unbekannt gebliebene Komponist Werner Wolf Glaser, dessen 1933 entstandene „Sonata I per pianoforte“ Otfried Richter im Robert Lienau Musikverlag (RL 40780) als Erstausgabe vorgelegt hat, ergänzt durch ein Herausgebervorwort. Richter hat zudem im Verlag Dohr, Köln, ein Werner-Wolf-Glaser-Werk-Verzeichnis veröffentlicht. Glaser studierte bei Philipp Jarnach in Köln und wurde auch von Paul Hindemith unterwiesen. Wegen seiner jüdischen Herkunft floh er 1933 über Frankreich nach Dänemark und 1943 weiter nach Schweden, wo er Leiter einer Musikschule wurde.
Wie Brahms mit seiner Klaviersonate C-Dur hat Glaser seine schon in Saumur/Frankreich komponierte „Sonata I“ – nach vorangegangenen Versuchen – bewusst als opus 1 an den Anfang seines vollgültigen Schaffens gestellt. Das kraftvolle, ausdrucksstarke Stück erfordert großes technisches Können, besonders im ersten und dritten Satz. Letzterer ist ein „Allegro molto legato ed egualmente“, das über weite Strecken aus einer Art „perpetuum mobile“, zum Teil in Parallelbewegung, besteht; solche prekären Passagen hat auch Hindemith gern in virtuosen Sätzen geschrieben. Bei allen technischen Problemen ist zu spüren, dass Glaser mit den Möglichkeiten des Klaviers vertraut ist; in den 30er-Jahren hat er die Sonata in Kopenhagen selber uraufgeführt. Die deutsche Erstaufführung fand mit fast 70-jähriger Verspätung 2001 in Ulm durch den Geiger und Pianisten Kolja Lessing statt. Dieser schildert seinen ersten Eindruck von dem Stück in einem Nachwort zur Druckausgabe:
„…Als ich das Werk im Frühjahr 2000 kennen lernte, faszinierten mich sogleich seine außergewöhnliche Intensität, seine mitreißende Kraft im Spannungsfeld zwischen ekstatischer Eruption und magischer Melancholie …“ Das Œuvre von Werner Wolf Glaser umfasst auch ein reiches Schaffen für Orchester, darunter etwa ein Dutzend Sinfonien. Es wäre ein echter Gewinn, seine Sinfonik endlich kennen lernen zu dürfen.
Der 1959 geborene Bochumer Stefan Heucke gilt unter Kennern zeitgenössischer Musik als Geheimtipp, wurden doch Kompositionen aus seiner Feder im In- und Ausland nicht nur aufgeführt, sondern auch produziert und gesendet. In seinem Œuvre finden sich Sinfonien ebenso wie Vokalwerke und Kammermusik in unterschiedlichen Besetzungen. Seit 1996 wird er vom Schott-Verlag betreut.
Da Heucke in Stuttgart und Dortmund ein Klavierstudium absolvierte, ist es nicht überraschend, dass er bereits mehrfach für dieses Instrument geschrieben hat. Einen bedeutenden Beitrag dazu liefert er mit dem hier vorgelegten Zyklus „Nacht-Urnen, Fünf Fantasiestücke für Klavier“, der zwischen 1998 und 2000 entstand (Einzelausgaben unter ED 9145, 9146, 9368, 9369 und 9370). Das umfangreiche und sehr schwierige opus 32 umfasst knapp 30 Minuten Dauer. Der Autor im Vorwort: „Der Titel des Klavierzyklus’ ‚Nacht-Urnen‘ ist ein makabres Wortspiel mit dem französischen Begriff ‚Nocturne‘. Die Assoziation Urne – Grabgefäß ist beabsichtigt, denn die Gattung des romantischen Nachtstücks für Klavier wird in diesen Stücken – zumindest im übertragenen Sinne – zu Grabe getragen.“
Der Zyklus besitzt eine bemerkenswerte Ausstrahlung, die von Ernsthaftigkeit, expressiver Sprache und einer breit angelegten Skala von Emotionen geprägt ist. Er weist eine Virtuosität auf, die mit neuen Mitteln an große romantische Werke von Schumann und Liszt anknüpft und bis in infernalische Bereiche gelangt, wie man sie aus Etüden von Liszt und von Ligeti kennt. Mit dem Zyklus hat Stefan Heucke ein großartiges Werk geschrieben, das die Tradition romantischer Klaviermusik in der dem Komponisten eigenen, durch das 20. Jahrhundert geprägten Sprache weiterführt.