Eine spezielle Aufgabe für den Rezensenten ergibt sich bei Werken, die fest verankert im klassischen Repertoire bekannt und bereits in einer Reihe von mehr oder weniger untadeligen, der Urtext-Verantwortung verpflichteten Ausgaben vorliegen. Man dürfte zum Beispiel neugierig nach Aspekten der Fingersetzung fragen.
In hier vergleichbaren Ausgaben sind Pianisten mit hoher Praxiserfahrung eingebunden, etwa beim Henle Verlag Andreas Groethuysen und in der vorliegenden Ausgabe Bärenreiter die auch als Klavier-Duo aktiven Brüder Hans-Peter und Volker Stenzl.
Gleich zu Anfang der Sonate KV 448 entdeckt man, dass im Unisono derselben Spielfigur für Pianoforte I und II die Fingersätze einige Male differieren. Die Unterschiede von Fingersätzen bei gleich strukturierten Passagen, die bei Klavier I und II an vielen Stellen den gesamten Band hindurch zu beobachten sind, finden wohl ihre Erklärung darin, dass wie im Vorwort angegeben jeder der Stenzl-Brüder einen Klavierpart geschlossen in seine Verantwortung genommen hat, was sich im Wesentlichen bei Unterschieden im Fingersatz zeigt.
Dies muss aber nicht als Widerspruch empfunden werden, heißt es doch völlig zu Recht im Vorwort, dass die Fingersätze als Anregungen zu verstehen seien und die Wahl entscheidend von der Beschaffenheit der Hände abhänge, von deren ,,Größe, Gewicht, Fingerlängen und -dicken, Spreiz- und Dehnfähigkeit …“. Tiefer noch greift der Gedanke: „Ein Pianist denkt auch mit den Fingern … Fingersätze dienen weit mehr als nur der mechanischen Realisierung von Tonfolgen.“
Vom Notentext her dürfte es bei der Bärenreiter-Ausgabe zu den vollendet überlieferten Werken, also Sonate D-Dur KV 448 und Fuge c-Moll KV 426, keine neuen Erkenntnisse geben. Anders bei den Werken, die, wenn sie aufführungsfähig gemacht werden sollten, einer Ergänzung bedurften. Vor allem sind das Larghetto und Allegro Es-Dur betroffen. In der Henle-Ausgabe wurde die Ergänzung eines Musikers des 20. Jahrhunderts und respektablen Mozart-Kenners, Franz Beyer, für die bei Mozart leer gebliebenen Stellen einbezogen. In der vorliegenden Ausgabe von Bärenreiter hat man die Ergänzung von Abbé Maximilian Stadler, Mozarts Zeitgenosse, übernommen. Auf den ersten Blick ist das naheliegender und erscheint in Bezug zu Mozart – Stadler war ihm als Freund verbunden! – der Wahrheit dichter auf der Spur zu sein. Doch seine sicher gut gemeinte Idee, in der Durchführung einfach die originale Schlusspassage aus der Exposition zu übernehmen und achtmal zu sequenzieren, hat Schwächen. So kann die Anregung für Spieler nur lauten: Man möge sich mit beiden Fassungen auseinandersetzen.
Neben zusätzlichen kurzen Fragmenten, die von Mozarts Hand den Ansatz zu weiteren vierhändigen Klavierkompositionen an zwei Instrumenten zeigen, für eine praktische Verwendung aber unbedeutend sind, verdient der letzte Beitrag im Anhang II nochmals besondere Aufmerksamkeit: Mozart erstellte sechs Jahre nach Entstehung der Fuge KV 426 eine Fassung für Streicher, erweitert um ein einleitendes Adagio von 52 Takten. Nichts lag näher, als dieses Adagio auch dem Original in der Wiedergabe mit Klavieren hinzuzufügen. Die Bärenreiter-Ausgabe enthält eine Transkription von Michael Töpel. Er hat sich verantwortungsvoll an Mozarts Partitur orientiert und darüber hinaus den Klaviersatz in ein lebendiges Dialog-Verhältnis für die Spieler gebracht. Dieses Adagio, der Fuge vorangestellt, sollte bei einer Aufführung nicht fehlen. Es bedarf kaum abschließend der Feststellung, dass es sich bei allen Stücken technisch wie musikalisch um anspruchsvollste Spielliteratur handelt.