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Neue Partituren 2021/02

Untertitel
Werke von James Clarke, Andrew Greenwald, Clara Iannotta, Johannes Maria Staud und Dominik Susteck
Publikationsdatum
Body

James Clarke: String Quartet No. 4 (2017) / Andrew Greenwald: A Thing is a Hole in a Thing it is Not (2012) für Streichquartett / Clara Iannotta: You crawl over seas of granite (2017) für verstärktes, verstimmtes Streichquartett / Johannes Maria Staud: 2. Klaviertrio „Terra fluida“ (2019) / Dominik Susteck: Musik für Nebenan (2020) für Klavier solo

James Clarke (*1957): String Quartet No. 4 (2017)
Verlag Neue Musik Berlin NM 2698 (Partitur und Stimmensatz)

Stilrichtung, allg. Charakter
Komplexer, gestisch wilder, mikrotonaler Stil, bei dem herkömmliche Spieltechniken vorwiegen. Zunächst klare Kontraste, dann immer feinere Übergänge zwischen homogenem Klangkontinuum und diskursivem Spiel zu viert, solistisch mit Begleitung oder in wechselnden Duoformationen.

Form, Struktur
Durch Episoden verschiedener Verwandtschaftsgrade strukturell beziehungsreiche, einsätzige Form, bei dem in direkter Abfolge oder auch reprisenartig größere Materialkomplexe oder Klangprozesse dynamisch, artikulatorisch, lagen- und satztechnisch unterschiedlichen Lesarten unterzogen werden.

Notation, Dauer, Schwierigkeit
Traditionelle Partiturnotation (einzelne Takte zusätzlich mit absoluten Dauernangaben)
Dauer: ca. 18 min.
sehr schwer

Kommentar
In diesem dramaturgisch souverän gestalteten, wirkungsstarken Stück erprobt Clarke mit gutem Erfolg Strategien, durch spannungsreiche Verhältnisse zwischen Phasen der Überrumpelung und Fasslichkeit, Hypertrophie und Ausdrucksstärke musikalische Komplexität sinnlich zu vermitteln.


Andrew Greenwald (*1980): A Thing is a Hole in a Thing it is Not (2012) für Streichquartett
Edition Gravis Brühl eg 2358 (Partitur, Satz mit Spielpartituren in Schiebeblattausfertigung)

Stilrichtung, allg. Charakter
Mathematisch fundierter Komplexismus im detailversessenen Mit- und Nebeneinander hyperaktiver Geräuschvielfalt und teils leicht lädiertem Glanz mikrotonaler Flageolettharmonik. Im Hinblick auf die mikrozeitliche Koordination diffizilster Abläufe verrät die Partitur einigen Experimentiergeist.

Form, Struktur
In Teilaspekten symmetrisch angelegter Einsätzer modularer Bauweise: Neun temporal wie haptisch komplex strukturierte Einzelphrasen werden innerhalb von sechs Durchläufen und vier „luftigeren“ Intermezzi immer wieder anders zusammengesetzt und auf Instrumente bzw. Saitenpaare verteilt.

Notation, Dauer, Schwierigkeit
Partitur mit absoluter Dauernnotation. Separate Linien- und Zeichensysteme für Bogen- (Druck, Position, Bewegungsrichtung) und Fingeraktionen (feste Griffe, rasches Saitenklopfen)
Dauer: ca. 11 min.
extrem schwer

Kommentar
Staunenswerter Versuch musikalischer Versinnbildlichung des im Titel aufgegriffenen erratischen Gedankens des bildenden Künstlers Carl Andre (*1935), amerikanischer Vertreter des aller üblichen Expressivität abholden Minimalismus. Ergo: Ein Klang ist ein Loch in einem Klang, der er nicht ist. 


Clara Iannotta (*1983): You crawl over seas of granite (2017) für verstärktes, verstimmtes Streichquartett
Edition Peters Leipzig (Contemporary Chamber Series) EP 14493 (Studienpartitur)

Stilrichtung, allg. Charakter
Geräuschklangkomposition prozessualen Charakters mit in größter Ruhe an- und abschwellenden Intensitätsgraden. Extreme Tieferstimmung, Verstärkung, Präparation und erweiterte Spieltechniken sorgen für mal naturhaft, mal elektronisch anmutende Musik weit abseits tradierter Satzmodelle.

Form, Struktur
Fünfteilige Form (Einleitung-ABA'B-Coda) mit dreimaligem Wechsel zwischen unendliche Weiten suggerierender Flageolettharmonik und mannigfaltiger, dabei meist unterschwelliger Belebung des Klangstroms durch Puls, Rhythmus, gleitende Bewegung, Geräusch (Bogendruck, Präparationen).

Notation, Dauer, Schwierigkeit
Herkömmliche Partitur mit vielen Sonderzeichen, von metrischer zu absoluter Dauernnotation übergehend
Dauer: ca. 16-17 min.
spieltechnisch und für das Instrumentarium extrem beanspruchend

Kommentar
Angeregt von Zeilen der irischen Lyrikerin Dorothy Molloy (1942-2004) lässt Iannotta ihre Zuhörer in „ozeanische“ Klangwelten eintauchen und über unser dereinst unumgängliches Versinken in den Weiten der Natur melancholisch werden. Die nötige Fleißarbeit der Musiker wird reichlich belohnt.


Johannes Maria Staud (*1974): 2. Klaviertrio „Terra fluida“ (2019)
Breitkopf & Härtel Wiesbaden Edition Breitkopf 9365 (Partitur und Stimmensatz)

Stilrichtung, allg. Charakter
Dissonant-chromatischer Stil. Die Musik lebt aus zwei gestisch gegensätzlichen Haltungen heraus, die den Verlauf im Wechsel bestimmen: immer wildere motorische Steigerungswellen und ruhig in sich kreisende Klangerkundungsstrecken (incl. Flüsteraktionen und Spiel im Klavierinnenraum).

Form, Struktur
Einsätzige ABABACBA-Form, in deren C-Teil vor allem vertikal strukturiertes Patchwork aus B durch temporär intensiviertes Streichermelos eine vorsichtige Annäherung ans lineare Momentum (harmonisch von wachsender chromatischer Sättigung bis hin zum Cluster geprägt) aus A erfährt.

Notation, Dauer, Schwierigkeit
Herkömmliche Partiturnotation, zusätzliche Liniensysteme für Vokalaktionen
Dauer: ca. 14 min.
schwer

Kommentar
In der alchemistischen Theorie des Universalgelehrten Johann Joachim Becher (17. Jh.) bildete die Staud hier inspirierende „flüssige Erde“ eine der drei Grundsubstanzen. Entsprechend quecksilbrig diese Musik, bei deren Vortrag es ein paar Widersprüche (z.B. „wild und präzise“) aufzulösen gilt.


Dominik Susteck (*1977): Musik für Nebenan (2020) für Klavier solo
ARE Verlag Köln ARE 2369 (Spielpartitur)

Stilrichtung, allg. Charakter
Konzeptuelle Raummusik eines reduktiven, ad libitum auch repetitiven Minimalismus meditativen, ja „absichtslosen“ (Susteck) Charakters. Soll in einem Nebenraum (Foyer, Abstellkammer o.ä.), ggf. sogar simultan mit anderen, räumlich benachbarten Musiken oder Happenings aufgeführt werden.

Form, Struktur
Ansammlung 195 schleifenartig zu durchmessender und nach gusto zu wiederholender Einzeltakte mit bis zu drei Zwei-, Drei-, Vier- oder Fünfklängen (harmonisch mitunter verwandt) oder Clustern in oft wechselnden und extremen Lagen, ggf. durch eigenes, analoges Tonmaterial zu ergänzen.

Notation, Dauer, Schwierigkeit
Katalogartige Materialsammlung mit einfachen Handlungsanweisungen (Tempo, Dynamik, Pedaleinsatz, Oktavlagen, Spielstrategie und -haltung)
Dauer: mind. 30 min.
leicht

Kommentar
In Zeiten, da alles Musizieren vor Publikum zum Regelverstoß wird, wirkt die Aura solcher Klänge aus dem Abseits sicher umso stärker. Jedenfalls die ideale Musik zur Wahrung aller Abstandsregeln, klanglich an Feldmans Klavierwerke, konzeptuell an Saties „Musique d'ameublement“ angelehnt.

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