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Richard Strauss: Der Bürger als Edelmann / Ariadne auf Naxos (Gesamtaufnahme, deutsch); Ernst Theo Richter (Monsieur Jourdain), Veronica Cangemi (Sängerin), Doris Lamprecht (Schäfer/Dryade), Brigitte Fournier (Schäferin/Najade) u.a., Orchestre de l’Opéra national de Lyon, Kent Nagano
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Bislang gab es die Urfassung der Oper „Ariadne auf Naxos“ auf keinerlei Tonträgern. Wer sich die Ur-„Ariadne“ akustisch vergegenwärtigen wollte, konnte bestenfalls auf neun der Musiknummern des ersten Teils, „Der Bürger als Edelmann“, zurückgreifen, die Strauss später als Orchestersuite, Opus 60, herausgegeben hat. Aber bereits der „Ariadne“-Handlung der Oper vorausgehenden zwei Schauspiel-Akte enthalten original 15 Musiknummern. Eine Einspielung mit sämtlichen Dialogen der von Hofmannsthal von fünf Akten auf zwei Akte eingestrichenen Molière-Komödie „Le Bourgois gentilhomme“ wäre allerdings für den Musikfreund doch etwas textlastig. Geschickt hat daher die Edition in einer Textfassung von Dominica Volkert die Dialoge auf einen Sprecher reduziert, der die zwischen Strauss’ 15 Nummern des Schauspiels liegenden Handlungsmomente als Monsieur Jourdain referierend deklamiert. Verblüffend, was die als dritter Akt des Bühnenwerks nachfolgende Oper „Ariadne auf Naxos“ in ihrer Urfassung von der späteren Fassung des Jahres 1916, neben der sparsameren Orchesterbegleitung, unterscheidet. Die um einen Ganzton höhere Bravourarie der Zerbinetta ist um rund achtzig Takte länger und ungleich diffiziler. Dramaturgisch enthält sie auch einen Austausch mit dem Dirigenten. Weil sie auf solche Weise die Konventionen der Oper satirisch aufs Korn nimmt, wird die ästhetische Manipulation des Komponisten deutlich, – im Gegensatz zur späteren Fassung, wo die Koloraturen als unerklärter Selbstzweck der Solistin erscheinen. Insbesondere aber der Schluß der Urfassung ist umfangreicher, führt er doch logisch zurück in die Rahmenhandlung, zunächst mit Zerbinetta und den Komödianten, dann auch mit Monsieur Jourdain, der die Oper verschlafen hat und dessen Trompetenmotiv aus der Ouvertüre das Bühnenwerk beschließt.
Die kammermusikalische Fassung wird von Kent Nagano stimmungsvoll plastisch ziseliert und von einem rollendeckenden Ensemble der Opéra national de Lyon verkörpert, dessen Spielfreude auf die szenische Produktion rückverweist. Die gegenüber der späteren Fassung ungleich schwierigere Partie der Zerbinetta bewältigt Sumi Jo spielend, bravourös und mit dem nötigen Witz. Ein weiterer herausragender Pluspunkt der durchwegs sehr textpräsenten Einspielung ist Gösta Winbergh, der den Bacchus mit trefflicher Leichtigkeit singt. Margaret Price ist eine Ariadne, die allzu lange auf ihren Erretter warten mußte; die Piani gelingen der Price faszinierender als ihre Forte-Passagen. Insgesamt wirkt die Ur-„Ariadne“ sehr viel schlüssiger und stimmiger als die spätere Opernversion. Es ist bedauerlich, daß aufgrund der Kostenfrage die zweite, Hofmannsthals Grundidee verwässernde Fassung entstanden ist, die sich dann, infolge der Theaterkonvention, weltweit durchgesetzt hat.