Das Wagner-Jahr ist fast vorbei. Doch trotz der Fülle an neuen Publikationen sind noch immer nicht alle letzten Fragen geklärt. Zur Genese von Richard Wagners Hauptwerk, dem „Ring des Nibelungen“, wurden nun aber überraschende Thesen vorgelegt. Der Kulturhistoriker Johannes Burkhardt hat untersucht, wo der „Ring“ geschmiedet wurde.
Aus dem Stadtbild von Dresden ist Richard Wagner ganz rasch wieder verschwunden. Nur ein paar Wochen im Frühjahr wurde da selbstbewusst plakatiert: „Dresden – Wo Wagner WAGNER wurde“. Das nahe Leipzig konterte nicht minder aufgeblasen: „Richard ist Leipziger“. Alberne Slogans von, so steht zu vermuten, eher amusischen Strategen des Stadt-Marketings.
Dass sie die Bürgerstadt Leipzig und die Ex-Residenzstadt Dresden wegen Wagner in die Haare bekommen, steht eher nicht zu befürchten. Nachweislich hat der 1813 in Leipzig geborene Wagner die meiste Zeit seines Lebens im Elbtal verbracht. Aber was heißt das, in Leipzig geboren? Das Geburtshaus von Richard Wagner sucht man vergebens, lediglich eine Bronzetafel am Leipziger Brühl informiert darüber, dass es „An dieser Stelle“ und „bis zum Jahre 1886“ gestanden haben soll. Tatsächlich gilt der 1656 erstmals erwähnte Gasthof Zum Roten und Weißen Löwen, der drei Jahre nach Wagners Tod abgerissen wurde und wechselnden Handelshäusern Platz machen musste, als der Ort, wo das neunte Kind von Johanna Rosine und Carl Friedrich Wilhelm Wagner zur Welt gekommen sein soll. Zur ewigen Frage, ob nicht vielleicht doch der Schauspieler und Porträtist Ludwig Geyer Richards leiblicher Vater gewesen sein könnte, gesellt sich inzwischen ein Zwist um den wahren Geburtsort. Denn im Taufregister der Thomaskirche erscheint erst am 16. August 1813 ein Eintrag, fast ein Vierteljahr nach der Geburt. Der mögliche Grund dafür? 1813 tobten in und um Leipzig die sogenannten Befreiungskriege gegen Napoleons Truppen. Kein guter Zeitpunkt für eine friedliche Taufe. Gut denkbar, dass die Familie des Königlichen Polizeiamtsaktuarius' sicherheitshalber rechtzeitig vor Rosinens Niederkunft in den – heute längst eingemeindeten – Vorort Stötteritz ausquartiert wurde und erst nach der Rückkehr im Sommer die Kindstaufe vornehmen ließ. Richard Wagner, ein Stötteritzer?
Dresden, das Potsdam von Leipzig
Das ficht die Dresdner nicht an. Ihre Stadt, von bösen Zungen als das Potsdam von Leipzig bezeichnet, gilt den Eingeborenen bekanntlich als Nabel der Welt. Warum also nicht auch als Ursprung und Zentrum von Richard Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“? Der 1943 in Dresden geborene Autor Johannes Burkhardt, der diesen Nachweis allen Ernstes betrieb, er unternahm beispielsweise Tonmessungen auf Elbdampfern und kam zum überraschenden Ergebnis, dass darauf das den „Ring“ eröffnende „Rheingold“-Es tönt! Burkhardt, einst Kapellknabe und heute längst ein gestandener Germanist, Philosoph und anerkannter Historiker, er hat sich auf die Suche begeben, „Wasserzeichen“ in Wagners Partituren zu finden. Wenn man die nämlich gegen das Licht hält, werde – im übertragenen Sinn – deutlich, dass nicht der Rhein, sondern die Elbe der Ort sei, wo Töchter und Götter sich tummeln, Zwerge und Riesen grummeln.
Nun ist zwar hinlänglich bekannt, dass der reale Fluss Rhein, den Richard Wagner erst relativ spät in seinem Leben in Augenschein nahm, für den „Ring des Nibelungen“ eher allegorischer Natur gewesen sein dürfte, doch reimen sich Burkhardts Beweisketten in Richtung Elbtal während der Lektüre mehr und mehr zu einer plausiblen Idee. Die sächsischen Bergwerkstraditionen können also gut und gern Nibelheim-Vorlage gewesen sein. Und das nahe Riesengebirge der Ort der Riesen. Die Elbe klingt nach dem lateinischen Albis, daher also der Alb, daher der Alberich?
Solche Vermutungen mögen vage klingen. Erstaunlich aber ist ein Ausflug von Johannes Burkhardt auf den belegbaren Spuren von Wagner in den Liebethaler Grund bei Dresden (dort steht heute das natürlich größte Wagner-Denkmal der Welt!). Dort weht in der Tat eher Götterwelt-Düsternis als Lohengrin-Leichtigkeit – obwohl nahebei im Dörfchen Graupa just der Schwanenritter zum Reifen gebracht wurde. Von dort aus ist es ein Katzensprung zur Lochmühle, in der – hoppla! – tatsächlich die Initialen F.A.S. eingraviert sind. Liegt hier die namentliche Quelle zu Fasolt? Die in Stein gehauenen Initialen des einstigen Lochmüllers Friedrich August Schreiter bilden zumindest dessen halben Namen.
Die Holde von Holderhof
Der Autor hat noch erstaunlichere Dinge herausgefunden, die sich vom „Rheingold“ bis zur „Götterdämmerung“ in der gesamten Tetralogie niederschlagen: Weltenbrand und Überschwemmung könnten an Erfahrungen vor Ort gereift sein, da die Lochmühle nach Felsstürzen, Hochwasser und Brand immer wieder aufgebaut wurde. Die gegenwärtige Ruine sollte einst Anreiz für die Götterburg Walhall gewesen sein? Selbst Freia, die von Fasolt begehrte Holde, könnte aus einer lebensechten Anregung vom Graupaschen Holderhof resultieren, der sich neben Wagners Logis im Schäferschen Gut befand.
Wem das beim Lesen allzu erstaunlich klingt, der wird sich bei den weiteren Indizien erst recht wundern. Streifte Wagner, auch laut Burkhardt „der größte Filmregisseur vor Erfindung des Films“, häufig durch die Sächsische Schweiz, so fand er dort mit der Basteibrücke offenbar die Vorlagen für die Regenbogenbrücke seiner Götter. Mehr noch, der Ortsname Wehlen könnte ihn zu Walhall ermutigt haben. Das nahe Rathen wird gar als Hinweis auf die Zeile „Raten soll Wotan“ gedeutet.
Zugegeben, manchmal klingt die Argumentationskette für „Der Rhein ist die Elbe“ etwas löchrig und bemüht, schade ist auch, dass mindestens einmal die Tetralogie als „Ring der Nibelungen“ bezeichnet worden ist und dass bei der vermeintlich erstmaligen Verbindung von Mythologie und industrieller Welt zwar Patrice Chérau, nicht aber Joachim Herz erwähnt wird. Der hat das nämlich schon drei Jahre vor Bayreuth in Leipzig praktiziert.
Doch bei weitem nicht allen Schlussfolgerungen Burkhardts muss man sich entziehen. Zumal der Historiker Wagners Leben und Werk kenntnisreich in der deutschen Geschichte verortet und Einflüsse aus der – tatsächlich mehr mit dem Rheinland verbundenen – mittelhochdeutschen Sagenwelt belegt. Wo es allzu spekulativ klingt, werden Gegenbeweise angetreten und Wagners Spuren selbst in der Schweiz verfolgt. Burkhardt geht nicht nur biografisch vor, sondern unternimmt einen Exkurs in Wagners Leitmotivik, erkennt den „Ring“ als „Gesamtkunstwerk von der Zeit“ sowie als „Fest der Erinnerung“ und erklärt den Dichter-Komponisten zum „außergewöhnlichen Erinnerungsmonomanen“. Mit anderen Worten: Wo auch immer er dichtete und komponierte, schöpfte er aus reichem Quell. Gut denkbar, dass Elbe und Rhein da manchmal zusammengeflossen sind.
Johannes Burkhardt: Der Rhein ist die Elbe. Richard Wagners wahre Welten
Mitteldeutscher Verlag 2013, 232 Seiten, 24,95 Euro