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Schonzeit für Schlachtrösser – zum Hörbuch „Jacqueline Fontyn und das Konzert“

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Diese fünfte Anthologie aus der Reihe „Künstler im Gespräch“ beleuchtet das entspannte Verhältnis, welches die 1930 geborene belgische Komponistin Jacqueline Fontyn zur Gattung des Konzerts unterhält, anhand von vier Beispielen; die ausführlichen Gespräche allerdings behandeln nur eines dieser Werke, nämlich „Rêverie et Turbulence“.

Mit eben diesem Violinkonzert von 1975, dem mit knapp zwanzig Minuten längsten Stück der SACD, wird die zweite Cybele-Produktion mit Orchesterwerken von Jacqueline Fontyn eröffnet: Die aus den beiden Sätzen „Tranquillo“ und „Vivo“ zusammengesetzte Komposition mit dem Titel „Träumerei und Turbulenz“, der einer deutschen Rezension entlehnt (und ins Französische übertragen) wurde, gestaltet hier kein Geringerer als der mit einer phänomenalen Doppelbegabung gesegnete Kolja Lessing, der für Aulos bereits das Klavierkonzert einspielte. Seit seiner Jugend ist er Frau Fontyn freundschaftlich verbunden, worüber er sich in druckreifer Eloquenz auf der dritten Platte äußert; wir erfahren dort auch so manches Interessante über seine Person und seinen eigenen Werdegang. Stilistisch könnte man das Violinkonzert – ein wie so oft bei Fontyn klangsinnliches und ausdrucksfreudiges Stück – am ehesten mit dem letztlich wenig aussagekräftigen Terminus „frei gehandhabte Zwölftontechnik“ umschreiben.

Nach Mädchenjahren als klavierspielendes, improvisierendes und von Anbeginn komponierendes Wunderkind waren für sie Figuren wie Petrassi, Lutoslawski und Dutilleux wichtig – eben solche unter keine Schule subsummierbare Individualisten wie sie selber. Als äußeres Zeichen dieser geistigen Unabhängigkeit kann auch gelten, dass keines ihrer Stücke einer vorhersehbaren Dramaturgie folgt – wenn alles in dieser Konstellation Mitzuteilende gesagt ist, hört es schlicht auf, ohne dass sich Formteile wiederholt hätten. Übrigens steht der Begriff „Konzert“, wo „Concertino“ ohnehin angemessener wäre, stets erst an zweiter Stelle, quasi als Erläuterung, in welchem Genre wir uns bewegen.

In der Werkchronologie als nächstes folgt das Cellokonzert „Colinda“, nach einem seinerzeit von Bartók gesammelten, weihnachtlichen rumänischen Volkslied. Es entstand 1991 als klingende Grabstele für einen in den Revolutionswirren umgekommenen rumänischen Freund.
„Es ist ein Ozean...“ (nach einer Aussage Mahlers über den Thomaskantor) war Fontyns Beitrag zum Bach-Jahr 2000 in Form eines Doppelkonzerts für Flöte, Cembalo und Streicher.

Dabei fällt auf, dass die Spannung im ersten Satz deutlich abfällt, wenn das Zuspielband einsetzt – eine Zitatcollage aus verschiedenen Originalwerken – und wiederkehrt, sobald die Livemusiker weiterspielen. Diese Episode empfand ich als die einzige echte Schwachstelle der Aufnahme, vielleicht eine kompositorisch nicht ganz so glückliche Entscheidung, die wie eine Verlegenheitslösung angesichts der (wahrlich einschüchternden) Größe des Vorgängers wirkt. Die zentrale Passacaglia – ein Variationensatz – überzeugt dagegen auf Anhieb, desgleichen die knappe „Réjouissance“, als Rausschmeißer sozusagen. Das offensichtlich von seinem Leiter Christoph-Mathias Mueller hoch motivierte Provinzorchester schlägt sich mehr als wacker, übrigens ganz ohne Beteiligung einer Rundfunkanstalt.

„Capricorne“, also „Steinbock“, für Schlagzeug und Kammerorchester schließlich wurde 2003 geschrieben, aber erst 2009 in einer Fassung für zwei Perkussionisten auf 24 Instrumenten fertig gestellt. Deren zehnminütiger Dialog mit den Orchestermusikern – Fontyn vergleicht ihn mit einem Spaziergang – nimmt mal harmonischere, mal konfliktgeladenere Formen an, ohne zu einem konkreten Endergebnis zu gelangen; er könnte auch wieder ganz von vorne beginnen.

Und genau dies möchte man als Hörer auch mit dieser SACD tun: sie immer und immer wieder spielen, in jeweils anderer Abfolge der vier darauf enthaltenen Stücke. Vor allem für das (gar nicht so schwere) Violin- und das Cellokonzert rechne ich mir echte Chancen auf einen Platz im Konzertrepertoire aus, wenn erst einmal die einschlägigen, schier zu Tode gerittenen Schlachtrösser eine Schonzeit eingeräumt bekommen.

Die beiden im engeren Sinne als Hörbuch-CDs fungierenden Gesprächsaufnahmen sind ebenfalls durchgängig hörenswert. Aber warum die französische Muttersprachlerin Jacqueline Fontyn, die im Verlauf ihrer oral history lesson charmant, aber unüberhörbar mit der deutschen Sprache kämpft (gelegentlich hilft die Rückübersetzung im Kopf, um das Gemeinte besser zu verstehen), auf deutsch interviewt wurde, ist mir ehrlich gesagt schleierhaft. Gerade die SACD hätte ja die Möglichkeit geboten, auf einer Schicht das französische Original, auf einer anderen eine nachträglich erstellte deutsche Fassung zur Auswahl zu stellen. Die Option der Mehrkanaligkeit erscheint mir hingegen weniger zwingend (es sind ja keine Hörspiele samt illusionistischer Raumwirkungen enthalten). Wer also nicht des Deutschen mächtig ist, für den sind die O-Töne auf der zweiten und dritten Platte praktisch wertlos. Wenigstens gestattet sich das angenehm ausführliche, aber nirgends geschwätzige Booklet den Luxus der Dreisprachigkeit, und auch die teils sehr aussagekräftigen Photos wurden diesmal groß genug reproduziert.

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