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Lebensbeichten und Kochkurse mit Rossini

Untertitel
Das Musikbuch auf der Frankfurter Buchmesse 1997
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Das wissenschaftlich Fundierte und das leicht Konsumierbare – auf der Frankfurter Buchmesse 1997 waren zwei große Strömungen beim Musikbuch auszumachen. Nach wie vor gibt es ein relativ großes Angebot an musikologischen Arbeiten. Vergleichsweise bescheiden dabei der Anteil der drei Celebranden Schubert, Brahms und Mendelssohn. Mit dem sich neigenden Jubiläumsjahr geht ihre große Zeit auf dem Buchmarkt offenbar zuende. Die vorhandenen Neuerscheinungen dominierte mit Schubert eindeutig der älteste der drei. Vielleicht, weil er das größte Potential zur Korrektur alter Klischees von Schwammerl bis Dreimäderlhaus bietet – wie auch zu ihrer weiteren Verfestigung. Beides war zu finden.Die großen Enzyklopädien haben weiterhin ihren festen Platz. Piper zeigte in einem Schrein von Plexiglas eine fünf Folianten umfassende „Enzyklopädie des Musiktheaters“. Zum bisherigen Subskriptionsaufkommen bei der Neuauflage des MGG äußerte man sich bei Bärenreiter „sehr zufrieden“. Solche Großprojekte sind freilich die Ausnahme auf einem kleinen, schwierigen Markt, dem es „unverändert schlecht gehe“, so Michael Ingendaay, Vertriebsleiter beim Münchener Henle-Verlag. Um so erstaunlicher, daß immer wieder Neuerscheinungen über Werke und Komponisten auftauchen, die man flächendeckend erforscht glaubte, wie etwa „Die Welt der Bachkantaten“ (Metzler/Bärenreiter). Ob in jedem Fall neue Forschungsergebnisse zu verkünden sind? Die großen Musikverlage zeigen eine Art Sendungsbewußtsein, fast unisono ist von der kulturpolitischen Verpflichtung die Rede, dieses Feld weiterhin abzudecken. Daß das Musikbuch meist nur per Mischkalkulation über das Notengeschäft finanziert werden kann, wird nicht verhehlt. Einmütig wird auch Klage geführt gegen den Handel, dessen Umgang mit dem Musikbuch allzu stiefmütterlich sei. Dem musikwissenschaftlichen Buch im engeren Sinne steht eine wachsende Zahl von Publikationen mit populärem Ansatz gegenüber. Neue Leser, neue Käufer gilt es zu gewinnen. Und dieses Bestreben treibt die unterschiedlichsten Blüten. Atlantis Schott will mit der „Serie Musik“ in poppiger Aufmachung den „anspruchsvollen Musikliebhaber“ erreichen. Der Bogen spannt sich von „Musik für die Insel – Was Prominente mit in die Abgeschiedenheit nehmen“ bis zur „Rap Revolution“. „Musik und ...“ heißt ein anderes Rezept, um auch den Nicht-Fachmann neugierig zu machen. Alle erdenklichen Verbindungen werden hergestellt. Bärenreiter will in der Reihe „Musiksoziologie“ mit Themen wie „Musik in der DDR“ publikumswirksame Akzente auf hohem Niveau setzen. Schließlich, so Lektorin Jutta Schmoll-Barthel, könne man „Themen nicht bloß aufgreifen, sondern auch lancieren“. Dabei müsse das Musikbuch vor allem leichte Konsumierbarkeit garantieren: viele Bilder, kurze Texte, punktuelle Lesbarkeit. Doch es geht noch viel blumiger. „Parsifals Mission“ (Dittrich) handelt von der Beziehung Wagners zu Ludwig II. und ist laut Klappentext „spannend wie ein Psycho- und Politthriller“. Bei Heyne kochen wir – Rossinissimo! – mit dem „Bonvivant und Gourmet“ aus Pesaro. Am nächsten Stand erzählen Stars lustige Anekdoten aus der Welt der Oper, andernorts werden Fragen beantwortet wie: „Warum kann Tristan beim Sterben noch singen?“ Und da ist natürlich noch die belletristische Verwertung musikalischer Themen. Ein Roman rankt sich um die „Comedian Harmonists“ (Kiepenheuer). Der Film zum Buch ist auch schon da. Auch die enorme Menge an Biographien lebender oder verstorbener Musiker fiel auf. Mehr als die Musik selbst scheint der zu interessieren, der sie macht. Eine ganze Wand voller Georg Solti schaut den Besucher an, Dritteltenor Pavarotti erzählt uns aus „seiner Welt“, ein findiger Biograph weiht uns ein in die tollkühnen Abenteuer des bisher unbekannten Casanovas Arthur Rubinstein. Erinnert das nicht verdächtig an den Tonträgerbereich? Schon lange werden dort die auf den Interpreten zentrierten Marketingstrategien des Pop-Genres unbesehen der klassischen Musik aufgepfropft. Dessen Helden lauerten in Frankfurt ohnehin zuhauf, die Lebensbeichte von Tic Tac Toe rangelte in den Regalen mit dem neuesten Bildband der Spice Girls, den Erinnerungen von Take That. Auch sie konnten freilich nicht mithalten mit dem meistgesehenen Titelgesicht dieser Buchmesse: Diana allüberall. Zumindest quantitativ ist die Popularmusik in all ihren Spielarten zweifellos das wichtigste musikalische Phänomen des 20. Jahrhunderts. Richtig also, daß der Buchmarkt ihr zunehmend Beachtung schenkt und mit einer wachsenden Zahl von Rock- und Popgeschichten aufwartet – sicher nicht allein aus musikwissenschaftlicher Notwendigkeit, sondern auch, weil hier mit einem großem Kreis potentieller Käufer kalkuliert wird. In Gestalt mehrerer Operettenführer wirft nach überstandenem Musicalboom ein weiteres populäres Genre den Schatten seiner Renaissance voraus. Der Konzert- und Opernführer „seriöser“ Prägung hat unterdessen erfolgreich den Sprung zur CD-ROM vollzogen. Und damit in die Halle 4 auf dem Frankfurter Messegelände, Schauplatz der Ausstellung „Electronic Media“. Trotz computergenerierten Getöses an jeder Ecke war die Atmosphäre dort merkwürdig leblos. Die Suche nach musikalischer Software erwies sich als Stecknadelsuche im digitalen Heuhaufen. Zwischen binären Weltatlanten und Steuererklärungsprogrammen sprudelte immerhin eine Quelle der Vitalität: auf einem computergesteuerten Disklavier schnurrte ein unfehlbarer Klaviervirtuose namens PC die großen Hits von Bachs „Italienischem Konzert“ über Beethovens „Wut über den verlorenen Groschen“ bis zu Joplins „Entertainer“ herunter. Die wie von Geisterhand bewegten Tasten ließen an die Walzenklaviere der Jahrhundertwende denken, suggerierten, daß hier der Komponist persönlich die Lochstreifen gestanzt habe – wenigstens die Illusion des Handgemachten. Wer moch-te, konnte auch selbst mitspielen. Bei der Dance-Machine der Firma bhv wird hingegen nur noch mit Tastatur und Maus musiziert. Die Software ist ein 8-Spur-Tonstudio und eine Sample-Bibliothek mit über 1000 Einträgen. Der heimischen Fließbandproduktion von Dancefloor-Hits nach dem Baukastenprinzip steht damit nichts mehr im Wege. Auch das Gitarre- und Klavierspielen soll man nun am PC erlernen. „Edutainment“ nennt man das, sicher billiger als herkömmlicher Instrumentalunterricht. Aber auch effektiv? Ob der Nutzen über den einer kurzweiligen Raritätenschau hinausgeht, erschien in vielen Fällen fraglich.

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