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Die 5 jungen Männer stehen mit Sonnenblume für den Schlussapplaus vor dem Publikum im Halberstädter Rathaus. Der Saal ist Modern, Holvertäfelt, im Hintergrund verdecken Lamellen ein Fenster. Die Dachschräge besteht aus Holzstufen mit Leuchtelementen.

Die Finalisten des 9. John-Cage-Awards: (v.l.n.r.) Ignat Khlobystin (Flöte), Jacob Mason (Klavier), Antonio Jiménez Marín (Posaune), June Young Will Kim (Bariton) und Alexey Potapov (E-Gitarre). © JCOS Halberstadt

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9. John-Cage-Award: von freien Geistern und kompromisslosen Interpretationen

Vorspann / Teaser

Es ist der Abend des 23. Augusts. Die eigentlich lockere Stimmung im Cage-Haus in Halberstadt wird zunehmend angespannter. Gerade hat der Ton- und Bühnen-Techniker noch darüber gescherzt, wie er einen feststeckenden Schweizer Stromadapter aus der Steckdose herausoperiert hat, jetzt bestimmen zackige Schritte das Raumklima: Die fünfköpfige Jury des 9. John-Cage-Awards hat ihre Diskussion abgeschlossen, sucht aber nicht nur das geeignete Ambiente zur Siegerehrung, sondern vermisst auch einen der fünf Finalisten.

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Es stellt sich heraus, dass dieser auf dem Weg von der Finalrunde im Halberstädter Rathaus zur Ergebnisbekanntgabe im Cage-Haus mit einem bereits ausgeschiedenen Teilnehmer in einer Bar halt gemacht hat. Der Wettbewerb, der die besten Interpreten Neuer Musik sucht, ist der zugehörigen Szene in der geistigen Haltung ebenbürtig: Er sprüht vor Freigeistigkeit, ohne beliebig zu sein.

Das macht schon die Ausschreibung deutlich. Der „9. John Cage Award für zeitgenössische Musik 2023“ ist offen für „Alle Instrumente+“. Das Plus steht für die Teilnehmer*innen-Zahl, die Bewerbungen von Einzelpersonen ebenso wie Ensembles bis 4 Personen zulässt. Zwar ist das Alter des angemeldeten Repertoires grob vorgeschrieben – pro Runde keines vor 1970 und mindestens eines nach 2000 – ein Pflichtstück sucht man allerdings vergebens. Ebenso wie eine Aufschlüsselung der Preisgeldverteilung: Die Jury muss die von der Karin und Uwe Hollweg Stiftung bereitgestellten 10.000 Euro nach eigenem Ermessen auf jede erdenkliche Anzahl von Preisen unter den Finalist*innen aufteilen. Jurorin Barbara Maurer befürwortet dieses Vorgehen, weil die Jury so die Möglichkeit habe, auch knappe Entscheidungen entsprechend fair würdigen zu können. Es bleibt freigeistig, aber nicht beliebig.

Finalisten aus den USA, Russland, Spanien und Südkorea

Entsprechend vielseitig gestalteten die fünf Finalisten die letzte Runde: Bei ausschließlich Neuer Musik heißt das, dass an dem einen Ende der Genre-Extreme der fast regungslose Alexey Potapov mit E-Gitarre und Effekten improvisiert, indem er anfängliche Signale aus seiner Gitarre in seiner Effektpedal-Orgel fängt, an ihr herumschraubt und drückt, sodass eine Klangmeditation zwischen ohrenbetäubenden, groovig-rauen Klängen und ruhigen Weiten entsteht; und am anderen Ende mit June Young Will Kim ein Bariton eine szenische Interpretation von Bernd Alois Zimmermanns „Weheklage“ (aus seiner kurz vor seinem Suizid geschriebenen „Ekklesiastischen Aktion“) auf die Bühne bringt, die sowohl mit ihren klanggewaltigen Höhepunkten, vor allem aber mit ihren leisesten Stellen die erschütternden Möglichkeiten der Neuen Musik bezeugt.

Auch wenn diverse Jurymitglieder in Gesprächen betonen, dass der Wettbewerb wegen der unmöglichen Vergleichbarkeit wenig Augenmerk auf die instrumental-technische Ausführung lege, und die Interpretation, beziehungsweise der künstlerische Ausdruck das entscheidende Kriterium sei, beweisen die Finalisten allesamt auch handwerkliche Exzellenz. Bei Flötist Ignat Khlobystin äußert sich diese in vollendeter Tonbeherrschung, während er bei Karlheinz Stockhausens „In Freundschaft“ nicht nur ein scheinbar den Naturgesetzen folgendes Spiel mit der Zeit zeigt, sondern seinen Körper gleichzeitig noch tänzerisch herausfordert, ohne seinen warmen, klaren Ton ins Schrille oder den langen Interpretations-Bogen aus den Augen zu verlieren.

Perlen zeitgenössischer Solokompositionen

Als ein Highlight und Beispiel einer hervorragenden Liaison zwischen akustischer und elektronischer Klangerzeugung gelingt Jacob Masons Interpretation von Georg Friedrich Haas‘ „Ein Schattenspiel“: Ein Mikrofon fängt die fein artikulierten Gesten des Pianisten ein und die Anlage spielt sie, so beschleunigt, dass sie einen Viertelton höher klingen, 24 Sekunden später wieder ab. Es entsteht ein Kanon, der sich mal selbst kontrastiert, sich ergänzt oder sich zur Untrennbarkeit ineinander verschlingt. Die dramaturgische Entwicklung erstreckt sich dabei von in Vierteltonschwebungen schimmernden Arpeggien, die Mason ebenso leise wie brillant perlend aus dem Flügel lockt, bis hin zu unerbittlich bedrohlich aus den Tasten gearbeiteten Clustern.

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Im Orangenen Shirt spielt Posaunist Antonio Jiménez Marín "Ruinen". Im Hintergrund das zuvor genutzte Sammelsurium an Percussion-Instrumenten.

Äußerlich nicht anzusehen: Posaunist Antonio Jiménez Marín inmitten der geistigen Expedition zu Asperghis „Ruinen“. © JCOS Halberstadt

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Das vielseitigste wenn auch als einziges rein akustische Finalprogramm bereitete Posaunist Antonio Jiménez Marín vor. Ein rhythmisches Klingeln der an seinem Knöchel befestigten Glöckchen begleitet seinen Auftritt. Mit einer Kopfbedeckung aus Klangstäben provoziert Marín zudem vereinzelt überraschte Lacher. Kaum, dass er vor den zahlreichen Zuhörer*innen angekommen ist, macht sein unvermittelter Start in Ben Johnstons „One Man“ für Posaune mit Perkussion klar, dass es nur eine Frage des musikalischen Auftretens ist, nicht des Erscheinungsbildes, um zwischen Humor und Ernsthaftigkeit zu unterscheiden. Das Stück gelingt ihm unterhaltsam, aber nicht albern. Nachdem er sich von Schellenkranz und Drumset (dass er später parallel zur Posaune bedient hat) verabschiedet, wird es bildhafter.

Im Dialog zwischen seiner eigenen, mal rufenden, mal schreienden Stimme und seiner sanften bis bratzenden Posaune erkundet er die – nur der Vorstellungskraft vorbehaltenen – Ruinen im gleichnamigen Stück von Georges Aperghis. Sein abschließender Programmpunkt wird das zweite Highlight des Konzerts: In „Kharon“ von Hans Abrahamsen wird die antiklimaktische Reduktion der Mittel zum großen Höhepunkt. Mit verschiedenen Dämpfern bringt er seine Posaune in den Sätzen „Dialogue with the Shades of the Dead“ und „Dialogue with the Waves of the River“ so überzeugend zum Sprechen, dass, trotz unverständlicher Sprache, bestechend deutlich wird, dass irgendetwas Wunderliches gesagt wird. Beim letzten Satz „Hades“, ist es dann nur noch ein Posaunist und seine Posaune. Während er seinen Auftritt mit viel klanglicher Attacke und fordernder Präsenz begonnen hatte, rundete er ihn mit zart-zerbrechlichen aber ungetrübten berührenden Blechklängen ab. Für alle Finalisten gibt es Standing Ovations.

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Eine gute Nachricht für die Musikwelt

Nach der Jury-Besprechungspause, die einen kurzen Besuch der Sankt-Burchardi-Kirche und damit der 639 Jahre währenden Aufführung von Cages „Organ²/ASLSP“ ermöglichte, ist die Jury um Christoph Grund, Barbara Maurer, Christoph Ogiermann, Ute Schalz-Laurenze und Marcus Weiss zur Bekanntgabe bereit und auch das Finalisten-Quintett ist vollständig: Christoph Ogiermann stellt abschließend klar, welch hohes Teilnehmer*innen-Niveau es gegeben habe, wie schwer die Entscheidungen teils gewesen seien und als wie schön die Jury und die Organisation es empfunden hätten, dass viele der in den ersten zwei Runden ausgeschiedenen Teilnehmer*innen bis zum Finale geblieben und ihre Kollegen angehört hätten.

Die Jury entscheidet sich für zwei Zweite Preise à 3.000 Euro (an Flötist Ignat Khlobystin und Pianist Jacob Mason) und einen Ersten Preis à 4.000 Euro für den Posaunisten Antonio Jiménez Marín.

Ute Schalz-Laurenze sagt in einem abschließenden Gespräch, dass die krasse Seltenheit von Interpretations-Wettbewerben, die Neue Musik tiefgehend beleuchten, sie dazu motiviert habe, den John-Cage-Award ins Leben zu rufen. Ogiermann gibt zu bedenken, dass es eigentlich in sich widersprüchlich sei, einen Musikwettbewerb nach John Cage zu benennen, da nichts diesem Freigeist ferner sein könnte. Die von Freiheit, Kollegialität und musikalischer Interesse geprägte Atmosphäre, mit der die John-Cage-Orgel-Stiftung Halberstadt den Wettbewerb durchführt, tröstet über diesen Widerspruch hinweg. Die gebliebenen Teilnehmer*innen der verschiedenen Runden sitzen noch lange vor dem Cage-Haus zusammen. Schalz-Laurenze kann vermelden, dass die Finanzierung des 10-jährigen Jubiläums bereits gesichert sei. Für die Musikwelt ist das eine gute Nachricht.

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