Der Eindruck, neue Musik habe sich trotz der Reinigung und Neukonstruktion ihres Materials als fester Stil etabliert, veranlasste den jungen Musiker schon in den 1970er Jahren, deren unhinterfragt fortgeschriebene Voraussetzungen und Aufführungsbedingungen neu zu beleuchten. Für ihn kann jede Handlung theatralisch sein und können überall Szenen aufgeschlagen werden. Folglich ereignet sich das Musiktheater von Manos Tsangaris neben Konzert- und Theaterbühnen bevorzugt auf Straßen, Plätzen, Dachböden, Ausflugsschiffen, in U-Bahnen, Museen, Ladenlokalen, Windfängen, Wäldern sowie besonders gerne in Paternostern und Fahrstühlen.
„In alle Richtungen wahrnehmen“
Zur Verleihung des Mauricio Kagel-Musikpreises der Kunststiftung NRW an den 1956 in Düsseldorf geborenen Komponisten gelangten die Gäste ins Kunstmuseum Kolumba Köln durch den Lastenaufzug. Flötist und Geigerin gestalteten hier eine Miniaturszene mit Lampen, Worten, Gesten, Klängen. Im Zwischengeschoss öffneten sich die hohen Lifttüren zu beiden Seiten wie ein Theatervorhang. Kurz wurde der Blick auf einen Cellisten frei, nach dessen kurzer Einlage die Fahrt weiterging. Manos Tsan-garis befragt überkommene Formate und gestaltet ungewöhnliche Perspektivwechsel zwischen Bühne und Auditorium, drinnen und draußen, vorher und nachher, groß und winzig, beteilig und unbeteiligt.
Ab 1976 studierte er an der Kölner Musikhochschule Schlagzeug bei Christoph Caskel und Komposition in Mauricio Kagels Klasse für neues Musiktheater. Seitdem spielt er als Drummer in verschiedenen Formationen, etwa „Drums Off Chaos“, und realisiert bei Festivals, Theatern und Opernhäusern Musiktheaterprojekte an ungewöhnlichen Orten. Der bereits vielfach mit Preisen ausgezeichnete Musiker ist seit 2009 Professor für Komposition an der Hochschule für Musik Dresden. Von 2012 bis 2021 war er Direktor der Sektion Musik der Akademie der Künste Berlin sowie von 2016 bis 2024 Leiter der Münchener Biennale für neues Musiktheater.
Nach den ersten Kagel-Preisen konnte man den Eindruck gewinnen, ausgerechnet Kagel-Schülerinnen und -Schüler würden hier vermieden, obwohl es von diesen neben Tsangaris mit Carola Bauckholt und María de Alvear einige namhafte gibt. Die bisherigen Preisträger waren zuerst George Aperghis 2011, dann Michel van der Aa, Rebecca Saunders und zuletzt 2017 Simon Steen-Andersen. Alle vier hatten weder etwas mit NRW noch viel mit Kagel sowie im Fall von Saunders noch nicht einmal nennenswert mit Musiktheater zu tun. Nun trifft der Preis nach sieben Jahren Pause – warum so lange? – vollumfänglich den Richtigen mit dem Komponisten, Theatermacher, Installations- und Lichtkünstler, Trommler, Performer, Dichter und Zeichner Manos Tsangaris.
Marcel Beyer verlor in seiner Laudatio viele Worte ohne genauer auf den Preisträger einzugehen. Dabei hatte der Dichter mit dem Komponisten beim abendfüllenden Musiktheater „Karl May, Raum der Wahrheit“ (2014) zusammengearbeitet. Nach der Preisverleihung durch die Generalsekretärin der Kunststiftung NRW Andrea Firmenich plädierte Tsangaris erneut für das, was sein bisheriges Lebenswerk auszeichnet: „Wir brauchen eine autonome Kunstproduktion und -rezeption, frei von Moralin und ideologischen Indienstnahmen, damit unsere Gesellschaft sich ihr freies Sensorium bewahrt und in alle Richtungen wahrnehmen kann, statt sich zu spalten und vom Kommunikationsdesign der Internetkonzerne formatieren zu lassen.“
Das Preisgeld beträgt 80.000 Euro. Darin enthalten ist ein Produktionsetat von 50.000 Euro für ein neues Werk mit einem Ensemble aus Nordrhein-Westfalen. Manos Tsangaris wird ein neues Musiktheaterprojekt mit dem sechsköpfigen Kölner Kammerensemble „hand werk“ entwickeln, das auch die Preisverleihung in Trio-Besetzung bereicherte. Und drei Wochen später wurde Tsangaris am 25. Mai auf der 62. Mitgliederversammlung der Akademie der Künste Berlin mit großer Mehrheit zum neuen Präsidenten gewählt, zusammen mit dem Architekturpublizisten Anh-Linh Ngo als Vizepräsidenten. Beide folgen als neue Führungsspitze auf die satzungsgemäß nach neun Jahren beendete Amtszeit von Jeanine Meerapfel und Kathrin Röggla.
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