2010 startete der US-amerikanische Organist James D. Hicks sein „Nordic Journey“ betiteltes Aufnahmeprojekt. Es ist das ambitionierteste seiner Art und dokumentiert – zum größten Teil in Weltersteinspielungen – unbekannte Werke der skandinavischen und baltischen Orgelliteratur zusammen mit neueren, die Hicks bei zeitgenössischen Komponisten in Auftrag gegeben hat. Das Volume 16 der Nordic-Journey-Reihe ist gerade erschienen (siehe auch Seite 12).
Fokus nordische Orgelmusik
Dass ausgerechnet ein Amerikaner und kein Europäer zu „dem“ Experten für skandinavische und (seit wenigen Jahren auch) baltische Orgelmusik avancieren würde, ist eher einem Zufall, besser gesagt einer glücklichen Fügung zu verdanken. Als Student berührte ihn die Musik von „Nordlichtern“ wie Sibelius, Nielsen und Grieg so stark, dass dies einem Erweckungserlebnis gleichkam. „Sie enthielt eine Tiefe und Dunkelheit, eine Verbindung mit der Natur, wie ich sie vorher noch nie vernommen hatte“, so Hicks, der selbst keine familiären Wurzeln in Nordeuropa hat. Ein Lebensprojekt konnte er aus seiner großen Leidenschaft aber erst nach seiner Berufstäigkeit als Musikdirektor an der Presbyterianischen Kirche in Morristown, New Jersey, machen, die 2011 endete. Ein Jahr zuvor hatte er schon so viel Material für ein Doppel-Album gesammelt, dass er damit nach Schweden reisen konnte, um es an der Setterquist-Orgel der Kathedrale Linköping einzuspielen. „Das Ergebnis fühlte sich für mich so an, als hätte ich ein wichtiges Ziel meines Lebens erreicht.“ Dass es weniger ein Ziel, sondern vielmehr erst der Auftakt einer langen und letztlich unabschließbaren „Journey“ war, konnte Hicks damals noch nicht absehen.
Die Art und Weise, wie dieses – explizit noch nicht so bezeichnete – Volume 1 kompiliert ist, sollte zum Maß-stab für alle folgenden Volumes wer-en: Werke von Komponisten, deren Namen man außerhalb Skandinaviens kaum bis gar nicht (mehr) kennt wie etwa Jarmo Parviainen, Patrik Vretblad oder Sipi Kumpula stehen neben solchen, die eigens für Hicks geschrieben wurden. „Meine allererste Auftragskomposition, ‚Variations for Organ‘ von Fredrik Sixten aus dem Jahr 2008, hat in vielerlei Hinsicht die Weichen gestellt und mir eine Welt eröffnet, die ich mir bis dahin nicht hatte vorstellen können.“ Mittlerweile haben mehr als 30 KomponistInnen über 60 Werke für ihn geschrieben, viele davon stammen aus den Federn seiner Freunde Sixten (Jg. 1962) und Kjell Mørk Karlsen (Jg. 1947). Diese neueren Werke sollen nach dem Willen von Hicks eine „einzigartige Vision vom Stand der gegenwärtigen nordischen Orgelmusik“ vermitteln und den älteren flankierend zur Seite stehen.
Enzyklopädisch ist die „Nordic Journey“-Reihe aber noch aus einem anderen Grund: Aus Hicks’ privater Noten-Sammelleidenschaft – „zuerst wollte ich einfach alle Partituren beschaffen, die ich finden konnte, und anfangs hatte das Projekt auch etwas Zufälliges an sich“ – entwickelte sich rasch eine professionelle Zusammenarbeit mit dem Norsk Musikkforlag, der die von James Hicks (wieder) entdeckten Manuskripte ediert. Was waren seine bisher bedeutendsten Funde? Hicks muss nicht lange überlegen: „Die ‚Symfoniskt Orgelstycke‘ von Erik Alvin (1902–1992, Vol. 2), die Werke von Jack Mattsson (1954–2007, Vol. 6), die ‚Partita över en andlig Finsk Folkmelo-di‘ von John Sundberg (1891–1963, Vol. 7), die ‚Toccata‘ von Frithjof Spalder (1896–1985, Vol. 11) und die ‚Sonaatti 2‘ von Arvi Karvonen (1888-1969, Vol. 13). Alle genannten Werke waren völlig vergessen und ich bin stolz darauf, sie der Öffentlichkeit als Erster präsentieren zu können.“ Dass Hicks mit seinem buchstäblich abseitigen Projekt keine riesige Fan-Gemeinde um sich scharen würde, ist dem Organisten klar. Auf die Frage, für wen er die ganzen Strapazen seiner nordischen Entdeckungsreisen (inklusive der Suche nach den jeweils für ein neues Volume passenden skandinavischen Orgeln) auf sich nimmt, antwortet er lapidar: „Ich mache das wegen der Musik, Punkt. Es ist jedem selbst überlassen, ob er sich damit auseinandersetzen möchte. Da dies nicht in meinem Einflussbereich liegt, konzentriere ich mich auf meine Aufgaben.“
Mit den beiden zuletzt erschienenen Alben „Baltic Sojourn“ (Vol. 15, 2023) und „Germanic Connections“ (Vol. 16, 2024) geht Hicks neue Wege. Erstmals in der Geschichte der Nordic Journey betritt er hier baltischen Boden, und zum ersten Mal spielt er kein skandinavisches Instrument, sondern (auf beiden Volumes) die Link-Gaida-Orgel der Ulmer Pauluskirche. Das Volume 16 verlässt auch insofern nordisches Territorium, weil es die deutschen Einflüsse auf die Orgelmusik der hier zu hörenden skandinavischen, baltischen und polnischen Komponisten wie beispielsweise Herman Åkerberg (1875–1954), Artur Kapp (1878–1952) und Andrzej MikoĊaj Szadejko (Jg. 1974) zu Gehör bringt und weil mit Max Drischner (1891–1971) und Andreas Willscher (Jg. 1955) erstmals auch zwei deutsche Orgelmeister mit am Start sind. Willschers „Seven Paintings On German Monuments“, ein siebenteiliger Zyklus in der Nachfolge von Sigfrid Karg-Elerts „Seven Pastels from the Lake of Constance“, hatte James D. Hicks 2023 bei dem Hamburger Komponisten, Organisten und Maler in Auftrag gegeben. Dass er mit Axel Ruoff (Jg. 1957) und Enjott Schneider (Jg. 1950) zwei weitere der wichtigsten deutschen Orgelmusikkomponisten unserer Zeit gewinnen konnte, die Werke für ihn schreiben (Schneider) beziehungsweise schon geschrieben haben (Ruoff), freut Hicks ganz besonders.
Wie geht es weiter in Sachen „Nordic Journey“? „Das Programm für das Volume 17 ‚North Atlantic Voyage‘ steht bereits fest, und das für Volume 18 auch schon weitgehend. Es soll den Titel ‚Around The Baltic Sea‘ tragen und Orgelmusik aus allen neun Ostsee-Anrainer-Ländern Gehör bringen.“ Konkrete Pläne für Vol. 19 und noch eher vage für Vol. 20 gibt es laut Hicks auch schon. „Das Material geht mir nicht aus, es gibt noch so viel zu entdecken – und meine Zeit ist begrenzt.“
Eine letzte Frage bleibt noch: Was beglückt James D. Hicks bei seiner Never-Ending-Nordic-Journey am meisten? „Die schönsten Momente sind die, die ich für mich allein habe: der erste Blick auf eine Auftragspartitur und das Erkennen ihrer Bedeutung, die nächtlichen Proben in einer dunklen Kirche und schließlich die Freundschaften, die ich durch meine Bemühungen geschlossen habe.“
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