Lydia Rilling ist Kuratorin und Musikwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt zeitgenössische Musik und Musiktheater. Von 2016 bis 2022 leitete sie das Festival rainy days und war Chefdramaturgin an der Philharmonie Luxembourg. Von 2011 bis 2016 lehrte und forschte sie als Musikwissenschaftlerin an der Universität Potsdam. Seit Januar 2023 ist sie die Künstlerische Leiterin der Donaueschinger Musiktage und damit nach über 100 Jahren Festivalgeschichte die erste Frau auf dem Chefsessel.
Die aufgeteilte Kreativität
neue musikzeitung: Diese Festivalausgabe trägt nach einem Übergangsjahr stark Ihre Handschrift. Sie haben das Festival unter das Motto „Collaboration“ gestellt. Was verstehen Sie darunter?
Lydia Rilling: Die heutigen Landschaften der zeitgenössischen Musik verdanken ihre Vielfalt und Lebendigkeit entschieden kollaborativen Arbeitspraktiken im Sinne einer „distributed creativity“. Das war für mich der Ausgangspunkt, ein Programm zu entwickeln, das ein Spektrum von sehr unterschiedlichen künstlerischen Zusammenarbeiten präsentiert. Das reicht von einem Kollektiv, in dem alle gleichermaßen komponieren und aufführen, über Kooperationen von Vertreter*innen verschiedener Künste – etwa beim Konzert Nr. 5 „Echoräume“ die Schriftstellerinnen Felicitas Hoppe und Anja Kampmann und die Komponistinnen Iris ter Schiphorst und Elnaz Seyedi – bis zu der Performerin und Komponistin Jessie Marino, für deren Komponieren es ganz unabdingbar ist, in einem frühen Stadium mit den Musiker*innen eine längere Workshop-Phase zu haben. In vielen Fällen gehen diese künstlerischen Zusammenarbeiten mit Improvisation einher. Diesen beiden Entwicklungen widmen sich die Musiktage in diesem Jahr.
nmz: Nennen Sie uns ein Beispiel?
Rilling: Da wäre beispielsweise das New Yorker Ensemble Yarn/Wire, das bei uns sein Deutschland-Debüt gibt. Wir haben drei zentrale Figuren der New Yorker Improvisationsszene eingeladen – Peter Evans, Tyshawn Sorey und Ingrid Laubrock –, jeweils für sich selbst und das Ensemble ein Werk zu komponieren. Evans hat über Monate hinweg immer wieder mit dem Quartett in Jamsessions zusammengespielt, um ein gemeinsames Vokabular zu entwickeln. Kollaborative Prozesse, die in anderen Künsten wie Performance oder Theater gang und gäbe sind, spielen inzwischen auch in der zeitgenössischen Musik eine wichtige Rolle, haben aber bisher keinen prominenten Platz in Donaueschingen eingenommen. In der ersten Ausgabe, die meine Handschrift trägt, ist es mir wichtig, diese künstlerischen Praktiken zu präsentieren.
nmz: Welche Konzertformate können wir erwarten?
Rilling: Als Zuhörer*in sind Sie in Donaueschingen eingeladen, sich durch vier Klanginstallationen zu bewegen, die im Zentrum der Stadt angesiedelt sind, wie auch durch die Konzertinstallation von Wojtek Blecharz, die mit 220 kabellosen, in immer wieder anderen Dispositionen im Raum verteilten Lautsprechern und fünf Performern arbeitet. Und natürlich sind Sie auch eingeladen, sich ganz entspannt und konzentriert auf einen Stuhl zu setzen und zuzuhören.
nmz: Können Sie uns eine kurze Definition Ihrer Idee eines zeitgemäßen und exzellenten Konzertprogramms geben?
Rilling: Ein Konzert ist vor allem eine soziale, intellektuelle und emotionale Erfahrung des (gemeinsamen) Hörens. Ein Konzertprogramm ist ja kein kontext- und raumloses Abstraktum. Für die Donaueschinger Musiktage ist mein Ideal ein Konzert, das aus interessanten und herausragenden neuen Werken oder Zusammenarbeiten besteht, die eine eigene Handschrift und ihre jeweils eigene Perspektive auf das Festivalthema bieten, und bei allem Kontrast einer kohärenten Konzertdramaturgie folgen, was bei Uraufführungen und den damit auch im Guten verbundenen Unwägbarkeiten und Verschiebungen natürlich weniger planbar ist als bei der Programmierung von bereits aufgeführten Werken oder Performances.
Ich vergebe Aufträge, wenn möglich, für den spezifischen Kontext eines Konzerts, das oft einen bestimmten Aspekt innerhalb des Programms verfolgt. Ob composer-performer oder klare Arbeitsteilung von Komponist*in und Interpret*in, das Programm Konzert steht und fällt natürlich mit den Aufführenden, deren musikalische Qualitäten, Haltung und Engagement das Konzert wesentlich bestimmen. Und schließlich gehört zu einem exzellenten Konzert, dass Uhrzeit, der sonstige Festivalkontext (z.B. welche Konzerte finden direkt davor und danach statt), der Ort wie auch räumliche Positionierung und Mobilität der Zuhörenden und Ausführenden dem künstlerischen Programm dienen beziehungsweise Teil dessen sind. Es gibt viele Stücke, die um 11 Uhr morgens nicht funktionieren oder die sich auf einem Stuhl sitzend weniger erschließen als ausgestreckt.
nmz: Wer ist das anvisierte Publikum?
Rilling: Zunächst haben wir in Donaueschingen ein Publikum mit einer wahrscheinlich einzigartigen Hörerfahrung. Es sind viele Menschen darunter, die unzählige Uraufführungen und Werke in ihrem Leben gehört haben und dadurch einen unglaublichen Schatz mit sich herumtragen, auf den sie zurückgreifen können. Dieser Erfahrungsschatz paart sich zuweilen mit hohen Erwartungen an die Musik. Ich möchte dazu einladen, den neuen Werken, die präsentiert werden, und damit allen Künstler*innen erst mal mit einem Vertrauensvorschuss entgegenzutreten.
Neues Publikum anzusprechen, zähle ich absolut zu meiner Aufgabe. Dazu gehört ein neues internationales wie lokales Publikum, aber natürlich auch ein junges. Wir setzen in diesem Jahr das Projekt Next Generation fort, in dem wir 102 Studierende einladen, für einen verhältnismäßig geringen Preis am Festival teilzunehmen. Außerdem habe ich in diesem Jahr einen Vorzugspreis von 12 Euro für alle Bewohner*innen des Schwarzwald-Baar Kreises für alle Konzerte eingeführt, da es mir wichtig ist, dass noch mehr Menschen, die vor Ort wohnen, zum Festival kommen. Es wird im Laufe der nächsten Jahre einige Projekte und Initiativen geben, um neues Publikum anzuziehen.
nmz: Sie sind nach 100 Jahren Festivalgeschichte die erste Frau an der Spitze des Festivals und gleichzeitig die erste Leiterin, die nicht als Redakteurin beim SWR angestellt ist…
Rilling: Zunächst muss ich richtigstellen, dass ich tatsächlich als Redakteurin beim SWR angestellt bin. Mein Aufgabenbereich umfasst nur keine Radiosendungen, auch wenn ich viele Jahre für den SWR und andere Sender Radiosendungen produziert habe.
nmz: Für wie viele Jahre ist die Finanzierung der Musiktage seitens des SWR gesichert?
Rilling: Grundsätzlich ist mir bisher stets ein klares Bekenntnis des SWR zu den Donaueschinger Musiktagen kommuniziert worden. Was die finanzielle Lage des Rundfunks betrifft ab 2025, weiß dies im Moment noch niemand, weil das von der Entscheidung der KEF abhängt. Den Donaueschinger Musiktagen geht es da genauso wie der restlichen ARD. Ich selbst habe einen Vertrag bis 2027.
nmz: 70 Prozent der von Ihnen eingeladenen Komponisten sind Frauen, knapp 70 Prozent aller eingeladenen Komponist*innen und Klangkünstler*innen sind zum ersten Mal bei den Musiktagen präsent. Ist es noch immer schwierig, so viele Komponistinnen zu finden?
Rilling: Klare Antwort: Überhaupt nicht. In diesem Jahr war es ganz und gar nicht schwer, so viele Komponistinnen zu beauftragen. Mir ist es wichtig, den Kreis derjenigen, die bisher in Donaueschingen präsent waren, stark zu erweitern, auch ästhetisch. Das merkt man dem Programm in diesem Jahr auch an. Ästhetische Diversität und Gender-Fragen können, aber müssen nicht Hand in Hand gehen. Ich arbeite allerdings nicht mit Quoten. 2023 sind es 70 Prozent, im nächsten Jahr wird es ein anderer Prozentsatz sein. In diesem Jahr hat es eine gewisse Signalwirkung, dass das Festival zum ersten Mal einen derart hohen Anteil von Frauen hat und im ersten Konzert des Orchesters ausschließlich von Frauen komponierte Musik uraufgeführt wird.
nmz: Ist das Thema Dekolonisierung im Festivalprogramm aufgegriffen?
Rilling: Eine größere Diversität zu erreichen, gehört auf jeden Fall zu den Zielen des Festivals. In diesem Jahr zeigt sich das an verschiedenen Programmpunkten, zum Beispiel an der Performance von Jawad Nawfal und Elyse Tabet aus Beirut, einer Stadt mit einer sehr lebendigen Elektronik-Szene. Für eine weitreichende und nachhaltige Dekolonisierung des Festivals bedarf es langfristiger Projekte und Strategien, an denen ich arbeite und deren Ergebnisse nach und nach zu hören und sehen sein werden.
nmz: Wie greifen Sie das Thema Musikvermittlung auf?
Rilling: Das Next-Generation-Programm hatte ich ja bereits erwähnt. Es wird zudem eine Reihe von Künstler*innengesprächen geben. Bei den Donaueschinger*innen erfreuen sich die Klanginstallationen großer Beliebtheit, und wir greifen dieses Interesse auf, indem wir kostenlose Führungen durch die Klanginstallationen anbieten. Wir haben außerdem zwei Kunst-Klassen des Fürstenberg-Gymnasiums in eine Klanginstallation zum Künstlergespräch eingeladen. In Zusammenarbeit mit der vhs kann man die Generalprobe des Abschlusskonzertes mit dem SWR-Symphonieorchester besuchen. Und schließlich gibt einen einwöchigen Kompositionsworkshop für Schüler*innen, dessen Ergebnisse in einem Abschlusskonzert von professionellen Musikern präsentiert werden.
nmz: Die Verlagsausstellung finden wir am gewohnten Platz?
Rilling: Die wird es mit einigen Neuerungen weiterhin geben. Zum ersten können die Partituren aller uraufgeführten Werken dort angeschaut werden. Zum Zweiten bieten wir erstmals auch einen Raum für nicht verlegte Partituren. Wir haben einen Call for Scores veröffentlicht und Komponist*innen, die keinen Verlag haben oder ihre Werke selbst verlegen, dazu einladen, ihre Partituren nach Donaueschingen zur Ausstellung zu schicken. Auch diese Initiative dient der Öffnung des Festivals und will andere Stimmen in Donaueschingen sichtbar werden lassen. Zugleich reflektiert sie die Entwicklung, dass immer weniger Komponist*innen noch einen Verlag haben.
- Das Gespräch führte Andreas Kolb
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