Gesellschaftsbezogene Themensetzungen vergangener Jahre wie Postkolonialität, „Ostasien modern“ oder die Denkfigur jüdischer Identitäten im Spannungsfeld von Diaspora und Globalität stehen dafür, wie weit sich das Forum neuer Musik von der tradierten Konzertform entfernt hat und zu einer Musik- und Denkwerkstatt geworden ist. Das Thema 2018 – Echoes of ‘68 – ruft nach der Straße. Geht das Forum neuer Musik 2018 dorthin? nmz-Chefredakteur Andreas Kolb sprach mit DLF-Redakteur Frank Kämpfer.
neue musikzeitung: „Echoes of 68“ sind die vier Forums-Tage vom 12. bis 15. April 2018 betitelt. Welche Echos werden da vernommen?
Frank Kämpfer: Eruptionen, Brüche, Neuanfänge in den 1960er-Jahren sind in der Tat unser Reflexions-Hintergrund. Es geht aber nicht um die berühmten Studentenunruhen in Paris und Berlin. Mich interessieren vielmehr Beschleunigungen, die dem Entwicklungsbedarf in den westlichen Nachkriegsgesellschaften dienten – und deren Folgen, die wir noch heute verspüren. Beispielsweise die erste Herztransplantation Ende 1967, die mit der Setzung des Hirntods das Bild des Menschen neu definierte. Oder die Anfänge des Internets, oder die Abkopplung des Dollar von den amerikanischen Goldreserven. Das waren – so Martin Burckhardts Theorie – die (freilich noch verborgenen) Vorboten unserer heutigen, von Globalisierung und Digitalisierung gezeichneten Welt. Uns interessiert an 1968 also die Problematik der Modernisierung einer Gesellschaft. Heute, wo wir an einer erneuten Modernisierungsschwelle stehen, überlegen wir, welche Fragen von damals sind immer noch oder wieder neu für uns relevant? Meine Kollegin Christiane Florin moderiert zum Forums-Auftakt dazu ein Streitgespräch.
nmz: Es geht beim Forum 2018 also um Fortschrittskritik? Wird deshalb dann Herbert Marcuse und nicht der Musiker und Musiktheoretiker Theodor W. Adorno gelesen?
Kämpfer: Adorno war 1968 längst Dogmatiker. Und zwar nicht, weil er sich von nackten Studentinnenbusen provoziert fühlte, sondern weil in seinem Weltbild kein Platz für alles Nichteuropäische, Nicht-Westliche war. Die antikolonialen Befreiungsbewegungen spielten keine Rolle bei ihm, sie waren seinerzeit weltpolitisch aber ein zentrales Moment. Deshalb: eher uninteressant für das Forum! Und auch noch viel zu viel vergöttert! Anders Marcuse, der – klischeebehaftet – aus den Köpfen und Bücherregalen verschwunden ist. Er sei der Philosoph des Linksextremismus gewesen, liest man gelegentlich. Das wollen wir überprüfen. Peter Erwin Jansen, Marcuse-Herausgeber von heute, wird hier differenzieren. Er liest Marcuse als Vorreiter einer Fortschrittskritik, die sich auf heutiges Wissen über Zusammenhänge von Wachstum, Kapitalismus und Klima bezieht – das macht Marcuse vielleicht noch einmal ganz neu interessant!
nmz: Welche Rolle spielt beim DLF-Festival nun die Musik? Musik von 1968 als Multiplikator des Protests? Soweit ich weiß, spielte Neue Musik im Rahmen der westdeutschen 68er-Bewegung keine besondere Rolle!
Kämpfer: 1968 ist ohne Popmusik nicht zu denken! Die Proteste gegen den Vietnam-Krieg und das Aufbruchsbedürfnis in den westlichen Staaten globalisierten sich mit ihr. David Smeyers und sein ensemble 20/21 werfen mit ihrem Programm „The Times, Are They a-Changin‘?“ zumindest einen Anker dorthin! In der Neuen Musik jener Zeit äußert sich die Modernisierung vor einem halben Jahrhundert ganz anders – abstrakter, weniger konkret, vielleicht aber grundsätzlicher dimensioniert. Ein Infragestellen etwa der bildungsbürgerlichen Kommunikationskette „Bühne – Dirigent – Publikum“ und ein grundsätzlich anti-autoritäres Kunstverständnis brechen sich hier vielfältig Bahn. Das spiegeln beim Forum 2018 exklusive Programme der Internationalen Ensemble Modern Akademie und des Ensembles ascolta.
nmz: Die 68er-Jahre haben unter anderem einen erweiterten Kunstbegriff mitgeprägt. Sie waren ebenso charakterisiert durch Militanz, Dogmatismus und Zersplitterung. Welches Musik-Echo vernimmt oder gestaltet der Deutschlandfunk diesbezüglich?
Kämpfer: Stichwort Fluxus, Stichwort Beuys! Ohne sie gäbe es weder Hespos noch Julia Mihály. Auch die postmodernen Debatten standen 1968 beinahe schon in der Tür, verbunden mit heftigen Positionierungskämpfen. – Sagen wir einmal so: Heute haben wir kein Problem, die ästhetische Vielgestalt zeitgenössischen Musizierens in den 60er- und 70er-Jahren wahrzunehmen und zu akzeptieren. Damals war das zweifellos anders. Beim Forum 2018 durchstreifen wir diese Historie einige Male, wir hören dann im Konzert einige Namen und Werke, die auch für Gegensätzliches stehen.
nmz: Im Zentrum des DLF-Festivals scheint mir die „ewige Rebellion der Jungen“ zu stehen. Wie äußert sich heutige Jugend im Forums-Programm?
Kämpfer: Ewige Rebellion? Das klingt ein wenig nach Jugendstil! Wir haben in der Tat fünf Kompositionsaufträge vergeben – hauptsächlich an Jüngere, und ganz bewusst an Komponistinnen. Ihr Auftrag: sich in Bezug zu setzen! Welche großen Leistungen der Achtundsechziger sind uns Heutigen in Fleisch und Blut übergegangen? Wie sehen heute junge Menschen die Rebellen von einst? Welche ihrer damaligen Fragen stellen die heute Jungen erneut? Julia Mihály wird das in ihrer Multimedia-Performance ironisch und selbstbewusst spiegeln. Saskia Bladt macht sich digitale Techniken zu eigen, sie fragt nach Kehrseiten der vernetzten Gesellschaft. Nikola Lutz sieht Ché Guevaras Befreiungs-Theorie in Fastfood-Ketten und in Produktwerbung pervertiert wiederkehren.
nmz: Neue Musik der 60er- und vor allem 70er-Jahre war durchtränkt von politischen Fragen und Botschaften. Die Neue Musik in der DDR etwa musste hoffen, über die Mauer hinweg vernommen zu werden. Welche Ost und West-Fragestellungen von damals sind heute noch relevant?
Kämpfer: Die Liberalisierungstendenzen halfen damals im Westen, die Gesellschaften zu beschleunigen. In Osteuropa wurden sie unterdrückt. Das ist inzwischen ganz anders, die immense Transitionsleistung der Osteuropäer wird trotzdem kaum anerkannt. – Eine für die Neue Musik wichtige Ost-West-Frage ist heute noch immer die der Verteilung und Wahrnehmung. In Deutschland leben und wirken inzwischen viele hochbegabte jüngere Komponistinnen und Komponisten aus aller Welt. Die nehmen wir wahr, indem wir sie fördern. Farzia Fallah zum Beispiel, Samir Odeh-Tamimi, Lisa Streich, Oxana Omelchuk. Über die Musik-Szenen ihrer jeweiligen Herkunftsländer wissen wir nach wie vor wenig.
nmz: Haben Sie 2018 wieder eine Art „Composer in residence“?
Kämpfer: Das ist Hans-Joachim Hespos, der Mitte März 80 Jahre alt wird. Er ist nicht der typische ’68er, aber in jedem Falle einer, der antrat, Normen zu sprengen, und der das in seinem Komponieren auch umsetzt. Wir sehen ihn als sehr wagemutig an. Seine Ästhetik ist für mich kein Klamauk, sondern eine eher zutiefst kreatürliche. Im Mittelpunkt steht Hespos’ Schaffen für Orgel und für das solistische Cymbalom. Das wollen wir entdecken; insgesamt werden acht oder neun verschieden besetzte seiner Werke in drei Konzerten zu erleben sein.
nmz: Also geht es am Ende doch wieder zurück zum Konzert und nicht auf die Straße. Der Maestro am Pult winkt herab ins Parkett zu den Konsumierenden. Ist am Ende alles wie immer?
Kämpfer: Es gibt einen kleinen Aufsatz von Byung-Chul Han, der ist für unser Forum sehr wichtig. Der Berliner Soziologe erläutert, warum wir heute keine Revolutionen mehr brauchen beziehungsweise hinkriegen werden. Aus seiner Sicht hat das mit der Verlagerung und Umdeutung der Ausbeutung zu tun. Man beutet sich heute selbst aus, man optimiert sich fortwährend – kein Fabrikbesitzer des 19. Jahrhunderts könnte das so perfekt, wie wir heute selbst.
Ich wünsche mir, dass Nikola Lutz’ abschließende multimediale Gruppenimprovisation „FOCO_2018“ mitten im Publikum dazu Stellung bezieht. Am Anfang haben wir revolutionäre Impulse, am Ende geht es um Fastfood und um Parfüm.
Das Programm im Detail unter: www.deutschlandfunk.de/forum-neuer-musik