In der Kammerphilharmonie Amadé haben sich im Sommer 1997 junge Musikerinnen und Musiker aus ganz Europa zusammengeschlossen. Unter der Leitung von Frieder Obstfeld treffen sie sich in laufender Projektarbeit, um Musik vom Barock bis zur Moderne aufzuführen. Die Kammerphilharmonie Amadé konzertierte mit Solisten wie Ida Haendel, Bruno Leonardo Gelber, Michala Petri, Sharon Kam, Sergio Fiorentino, Gilles Apap und dem Raschèr Saxophone Quartet. Das Orchester folgte bislang Einladungen zum Internationalen Beethovenfest Bonn, zum Schleswig-Holstein Musik Festival, zum Festival „Toujours Mozart“ in Salzburg und Wien, zu den Niedersächsischen Musiktagen und den Musikfestspielen Saar. Das Orchester spielte auf Einladung des Nordrhein-Westfälischen Ministerpräsidenten beim NRW-Forum in Tokio sowie beim Festival „Ars Cameralis“ im polnischen Katowice. Im Mai dieses Jahres war das Ensemble zu Konzerten und Workshops in Kapstadt, Johannesburg, Soweto und Bloemfontein beim Internationalen MIAGI-Festival in Südafrika eingeladen.
Vielbeachtete CD- und Rundfunk-Produktionen, eine eigene Abonnement-Reihe in NRW und außergewöhnliche Projekte wie Haydns „Sieben letzte Worte“ mit Eugen Drewermann und „Mordnacht Mozart“ mit Herbert Feuerstein runden das Bild des Ensembles ab. Leider führt die als ungenügend zu bezeichnende öffentliche Förderung des Ensembles, trotz der unstrittigen hohen Qualität ihrer Konzerte und der wichtigen Bereicherung der Musikszene, zu einer kontinuierlichen Unterfinanzierung. Wann wird endlich auch von den kulturpolitisch Verantwortlichen erkannt, dass sich das Musikleben gerade durch die Arbeit freier Ensembles innovativ, phantasievoll und zukunftsträchtig entwickeln kann? Darüber hinaus bieten in Zeiten stark zurückgehender Orchesterstellen bei den deutschen Kulturorchestern freie Ensembles vielen hoch qualifizierten Absolventen deutscher Musikhochschulen eine berufliche Heimat. Wie lange noch?
Ulf Werner: Wenn man einen Blick auf das Repertoire der Kammerphilharmonie Amadé wirft, so stellt man fest, dass Sie mit dem Orchester Musik aller Epochen vom Barock bis heute aufführen. Sie haben andererseits mit dem Namen des Ensembles Ihre Arbeit unter das Patronat Mozarts gestellt. Inwieweit bildet Mozart einen besonderen Schwerpunkt Ihrer Tätigkeit?
Frieder Obstfeld: Für mich ist Mozart sicher ein, wenn nicht der Höhepunkt in der abendländischen Musik. So erscheint es mir natürlich, dass er am häufigsten in unseren Programmen vertreten ist. Erstaunlicherweise spielen viele Werke aus Mozarts Schaffen jedoch auch heute noch im Konzertleben kaum eine Rolle. Die frühen Sinfonien, Meisterwerke wie die „Lodronischen Nachtmusiken“ oder das Divertimento KV 334 – wie viele Hörer, wie viele Musiker kennen diese Musik? Es gibt also bei Mozart immer noch viel zu entdecken. Aber da ist auch ein anderer, wenn Sie so wollen pädagogischer Aspekt, der mir wichtig ist: Wenn es darum geht, ein Mozart-Menuett oder ein Haydn-Adagio zu spielen, stelle ich bei vielen Musikern eine gewisse Befangenheit fest. Gerade das scheinbar Einfache dieser Musik ist offensichtlich besonders schwer darzustellen. Es eröffnet sich aus dem Geist der späten Romantik oder aus der Moderne kein Zugang zu Mozart oder Haydn. Umgekehrt aber: Der Musiker, der den Weg zu Mozart, zu Haydn gefunden hat, wird auch Brahms oder Tschaikowski besser verstehen und spielen. Eigentlich bezieht sich ja fast die gesamte mitteleuropäische Musik bis hin zu Bartók, Strawinsky, Schönberg auf ihre Blütezeit, die Wiener Klassik.
Werner: Würden Sie sich als Spezialist für die Wiener Klassik bezeichnen?
Obstfeld: Nein, der Begriff des Spezialisten führt geradewegs ins Abseits. Es mag sein, dass fast jeder Musiker eine besondere Affinität zu einem bestimmten Komponisten hat. Aber deshalb auf den Reichtum und die Vielfalt des gesamten Spektrums zu verzichten, wäre sicher eine Verarmung.
Werner: Wie schwer ist es, bei Werken, mit denen schon jeder Zuhörer und erst recht jeder Musiker viele Hör-erfahrungen gemacht und deshalb konkrete Vorstellungen im Kopf hat, noch kreativ zu sein und etwas Neues zu entdecken?
Obstfeld: Das scheint ein Problem zu sein. Aber machen wir uns doch einmal frei von dem Anspruch, um jeden Preis originell sein zu wollen! Es ist ja heute Mode, Musik „gegen den Strich zu bürsten“. Das ist dann oft keine Interpretation, sondern Design. Es mag sein, dass sich manche Kritiker dafür interessieren, auch der intellektuelle Snob stellt sich gern auf die Seite dieser „Erneuerer“. Aber wir gehen alle letztlich dabei leer aus. Das wirklich Neue ist das unmittelbar Erlebte, auch wenn es schon tausendmal auf ähnliche Weise gesagt und getan worden ist.
Werner: Um eine klare Interpretation mit den Musikern zu realisieren, muss doch jeder Instrumentalist eine übereinstimmende Vorstellung vom Klang, von der Phrasierung, von der Bogenführung et cetera haben. Wie erreichen Sie das bei einer noch immer starken Fluktuation der Musiker.
Obstfeld: Erst einmal dadurch, dass ich in mir selbst diese genaue Vorstellung entwickle. Das ist ein langwieriger Prozess, der ja bis in die Klangbildung und die Wahl der Bogenstriche und Fingersätze reicht. Den Prozess der Vorstellungsbildung machen dann die Musiker in verkürzter Form in den Proben auch durch, allerdings ohne sich auch nur annähernd so quälen zu müssen, wie ich es manchmal tue. Denn natürlich mache ich während des Partiturstudiums erst einmal genau die gleichen Fehler, die u u ich später bei den Musikern anprangere. Auch ich hänge am Anfang oft in diesen Klischees, schrecklich! Das sind sozusagen „pubertäre“ Stadien, die durchzumachen vielleicht sogar notwendig ist. Wichtig ist aber, sich damit nicht zufriedenzugeben, sondern weiterzuarbeiten, bis es die Musik ist, die spricht.
Werner: Sie führen immer wieder auch Streichquartette in einer Fassung für Streichorchester auf, neben der Originalbearbeitung der „Drei Sätze aus der Lyrischen Suite“ durch den Komponisten Alban Berg auch Übertragungen von Beethovens „Großer Fuge“ oder des Quartetts op. 95. Das G-Dur-Quintett von Brahms und das Verdi-Quartett haben Sie auf CD eingespielt. Wie kann ein Streichorchester diesen intimen und hochkomplexen Kammermusikwerken gerecht werden?
Obstfeld: Da ist zunächst die Herausforderung. Denn das Streichorchester sollte hier eben nicht wie ein Orchester klingen, sondern eher wie ein Quartett. Nun kann man einwenden, dass sich damit diese Fassungen ad absurdum führen, dass es doch vollkommen genügt, sie in ihrer Originalfassung zu belassen und als reines Quartett aufzuführen. Diesem Einwand kann man eigentlich nur beipflichten. Aber das Ergebnis unserer Versuche und der anderer Ensembles ist doch immer wieder unter einem sozialen Aspekt sehr berührend. Zwanzig Streicher spielen ein Quartett – das verlangt höchste Konzentration und äußerste Behutsamkeit. In diesem Miteinander entsteht eine große soziale Wärme, denn wirklich alle sind bei diesem Drahtseilakt aufeinander angewiesen. Hinzu kommt, dass man diese Musik eigentlich gar nicht dirigieren kann. Es ist so, als wenn sich das Orchester und der Dirigent in diesem Moment selbst aufheben und eine neue Form entsteht, die ich mehr erahne, als dass ich sie begrifflich beschreiben könnte. Und hören Sie auf den Klang: Wenn fünf Geiger die erste Geigenstimme spielen und durch intensive Arbeit eine große Homogenität erreicht haben, werden sie wie eine einzige Geige klingen und doch auch wieder nicht. Der Klang ist weniger individuell, mehr universell. Trotz gewisser Einbußen in der Flexibilität und im Tempo erreicht man so etwas wie eine neue Objektivität, die zum Beispiel dem „späten Beethoven“ gut ansteht. Beim Verdi-Quartett mit seinen opernhaften Elementen kommt die Streichorchesterfassung Verdis Absichten vielleicht sogar näher als die originale Version. Verdi selbst hat sein Quartett in Köln orchestral aufgeführt. Ein anderer Fall ist Bergs „Lyrische Suite“ – sie ist ja fast unspielbar. Wenn aber das scheinbar Unmögliche gelingt, haben Sie mehr Expressivität, mehr Wärme. Auch können Sie die dynamischen Pole weiter auseinanderziehen. Es ist sehr schade, dass Berg nicht das vollständige Quartett für Streichorchester eingerichtet hat. Wenn wir auch mit unseren Versuchen bisher nicht ganz zufrieden waren, wollen wir sie doch fortsetzen. Sie machen einfach zu viel Freude!
Werner: Das Orchester veranstaltet seit vielen Jahren ein eigenes Festival, die Sommerlichen Musiktage Soest. Das Programm des Festivals ist mit Orchesterkonzerten, Kammermusik und Kinderkonzerten inzwischen weit gefächert. Was bedeutet das Festival für Sie und Ihre Musiker?
Obstfeld: Es ist für mich persönlich die schönste Zeit des Jahres, denn ich habe fast zwanzig Jahre in dieser wunderschönen Kleinstadt in Westfalen gelebt. So freue ich mich jedesmal, dahin zurückzukehren. Und ich glaube, diese Freude teilen alle Musiker, die dorthin kommen. Denn Soest ist im Sommer einfach unwiderstehlich.
Wir haben damals 1991 mit drei Konzerten sehr klein angefangen und was die Anzahl der Konzerte betrifft, sind die Sommerlichen Musiktage mit sechs Konzerten bis heute auch klein geblieben. Überhaupt ist der Rahmen sehr intim. Wir spielen in einer Kirche aus dem 12. Jahrhundert, Alt-St. Thomae, von den Soestern auch „Schiefer Turm“ genannt, die nach ihrer Zerstörung im Krieg auch heute noch etwas vom Charakter einer Ruine hat. Die Kirchengemeinde ist sehr entgegenkommend und so können wir dort aufführen, was wir wollen. So haben die Soester in den 90er-Jahren die europäische Erstaufführung der 1944 in Theresienstadt komponierten „Ouverture für kleines Orchester“ von Hans Krasa erlebt. Vor allem aber erinnere ich mich an die denkwürdige Wiederaufführung des „Cornet“ von Rilke in der Vertonung von Viktor Ullmann durch Gerd Westphal und Michael Allan. Dieses Melodram war zuvor ein einziges Mal, nämlich 1944 in Theresienstadt unmittelbar vor Ullmanns Ermordung aufgeführt worden. Viele Musiker, die ich bewundere, sind zu uns nach Soest gekommen:
Edith Picht-Axenfeld, Hansheinz Schneeberger, Gerhard Schulz und seine Frau Lilia Bayrova, Robert Brooks, Michala Petri, Gilles Apap, der unvergleichliche Pianist Sergio Fiorentino und viele andere. Agnes Giebel gab hier als über 70-Jährige einen unvergesslichen Schubert-Abend. Es sind viele Freundschaften entstanden, nicht nur zwischen uns Musikern, sondern auch zu den Gastfamilien. Ich bin den Soes-tern für diese Möglichkeit, mit Freunden und Gleichgesinnten zu musizieren, sehr verbunden.
Werner: In den vergangenen Monaten ist die Kammerphilharmonie Amadé vermehrt auch im Ausland aufgetreten, so in Tokio, in Polen und noch im Mai beim MIAGI-Festival in Südafrika. Dort haben die Musiker auch Workshops für die Jugendlichen in den Townships von Kapstadt sowie in Soweto und in Bloemfontain abgehalten. Wie wichtig ist Ihnen dieser vermittelnde Aspekt der musikalischen Arbeit?
Obstfeld: MIAGI bedeutet ja: Music Is A Great Investment. Die Begeisterung der jungen Menschen für die abendländische Musik ist nahezu grenzenlos, aber die Bedingungen, unter denen die Menschen dort leben müssen, sind einfach furchtbar und es ist sehr schwer, das eine vom anderen zu trennen. Die Musik kann die Gegensätze für einen Moment des Atmens überbrücken, aber zur Veränderung der Verhältnisse wird sie dauerhaft doch nur beitragen können, wenn man im Denken entsprechende Schritte vollzieht und sich einmal fragt, wozu wir die Musik eigentlich haben. Solange das Geldsystem die Menschen ungleich macht, ist auch die Musik nicht an ihrem eigentlichen Platz angekommen.