Dresdens Semperoper gilt vielen als theatrales Museum. Ein schickes Haus mit angestaubten Inszenierungen, in dem sich kaum Einheimische, sondern beinahe nur Touristen tummeln, denen die Qualität der Bühnenleistungen egal sein soll. Noch immer hält sich das Gerücht, hinter der Fassade sei tatsächlich eine Brauerei versteckt. Soweit die Vorurteile. Die Wahrheit nach sieben Jahren Intendanz Gerd Uecker sieht anders aus. Ein schwerer Bildband mit dem Titel „Beständig ist nur der Wandel“ zieht jetzt Bilanz.
Kinderaugen genügt ein Blick aufs Cover: Warum ist die Oper denn so schnell, dreht die sich? In der Tat, die Semperoper ist als Hingucker auf dem Einband reichlich unscharf aufgenommen worden; man kann da beinahe die Mailänder Galleria Vittorio Emanuele II assoziieren, was ja immerhin schon mal den Gang zum Teatro alla Scala andeuten würde. Und sowieso den Titel dieses bibliophilen Schwergewichts: „Beständig ist nur der Wandel. Über-Regionale Ermunterungen aus der Semperoper“ heißt der Rückblick auf sieben Jahre Dresdner Amtszeit von Intendant Gerd Uecker. Pünktlich zum Schlussvorhang wurde die Publikation präsentiert, am 1. August leitet Ulrike Hessler die Geschicke des Hauses.
Ebenso wie seine Nachfolgerin kam auch Uecker aus München nach Dresden. Dort wurde er 1946 geboren und hat sich neben einem Klavier- und Dirigierstudium auch Musikpädagogik absolviert. Nach einer Solorepetitorenstelle und dem ersten Lehrauftrag in Köln wirkte er ab 1979 an der Bayerischen Staatsoper, wo er zuletzt als Operndirektor war. Lehraufträge führten ihn durch ganz Deutschland sowie nach Graz, Peking, Salzburg, Venedig und Zürich. Sein Auftakt in Dresden stand zunächst freilich unter wechselvollen Vorzeichen: Noch waren die Spuren des Hochwassers vom Sommer 2002 nicht restlos getilgt, vor allem nicht das sich daraus ergebende finanzielle Desaster.
Von Anfang an: Zum Wandel gezwungen
Wirklich tragisch war aber der plötzliche Tod von Ueckers Freund Giuseppe Sinopoli im April 2001. Der hätte als Generalmusikdirektor mit ihm nach Dresden kommen und die erste Opernpremiere der gemeinsamen Amtszeit herausbringen sollen. Nach der im April 2001 so dramatisch abgebrochenen „Aida“ an der Deutschen Oper Berlin wurde daraus nichts. Genau ein Jahr später starb Regisseur Herbert Wernicke, wodurch eine weitere Lücke in Ueckers Plänen für Dresden entstand.
Wegen der Flut konnte Vorgänger Christoph Albrecht seinen von Willy Decker inszenierten Wagner-„Ring“ nicht vollenden – mit der übernommenen „Götterdämmerung“ eröffnete die erste Uecker-Saison quasi unfreiwillig. Dazu mussten Haus und Orchester zunächst wieder einmal ohne Musikchef auskommen, was in der jüngeren Geschichte der Sächsischen Staatskapelle beinahe Regel zu werden scheint, denn jetzt zum Uecker-Abschied steht das traditionsreiche Orchester gerade wieder kopflos da. Und anstelle von Wernicke musste Sebastian Baumgarten 2004 Alban Bergs „Wozzeck“ übernehmen. Gerd Uecker war also von Anfang an gleich mehrfach gezwungen, die Beständigkeit seines künstlerischen Konzepts mit möglichst flexibler Bereitschaft zum Wandel zu pflegen.
Ein Opernführer – unterhaltsam, persönlich, mit Anspruch
In einer kurzen Einführung „Wie alles begann“ kommt der gewesene Hausherr auf all diese Wirren zu sprechen. Rückblickend leistet er sich aber dann einen ganz persönlichen „Opernführer“, der nahezu als Buch im Buche gelten darf. Ein Kapitel „Marginalien zu den Premieren“ beschreibt sämtliche Neuinszenierungen auf der großen Bühne des Semperbaus. Lesenswert und dank eindrucksvoller Bebilderung durch Theaterfotograf Matthias Creutziger auch sehenswert ist diese Übersicht, die durchaus als Grundlage herhalten kann, um künftig Dresdens Opernschaffen zwischen 2003 und 2010 zu bewerten. Die eine und andere Produktion nährt in der Tat das Vorurteil vom theatralen Museum, daneben gibt es Unvergessliches und immer auch wieder Herausragendes.
Bei „Fledermaus“, „Lustige Witwe“, „Carmen“, „Otello“ und „Il trovatore“ werden Enttäuschungen wach, „Don Carlo“, „Die Liebe der Danae“, „Figaro“ und „Euryanthe“ wecken Gedanken an Beliebigkeit. Aber schon „Wozzeck“, mehr noch Sebastian Baumgartens spannende Sicht auf „Peter Grimes“, Harry Kupfers Zeitbild vom „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, Keith Warners bildgewaltige Interpretation von „Fausts Verdammnis“, Claus Guths Maßstäbe eher aufhebende denn setzende „Meistersinger von Nürnberg“, Nikolaus Lehnhoffs ästhetisch orientierte Inszenierung des „Rigoletto“, Johannes Schaafs hochdramatische „Tosca“ sowie in jüngerer Zeit der barocke Ausflug von Jens-Daniel Herzog zu „Giulio Cesare in Egitto“ und nicht zuletzt ein faustischer Schlusspunkt mit Gounods „Margarete“ bleiben gültig.
Neben Richard Wagner und Richard Strauss als einstige Hausgötter hat stets das italienische Repertoire eine besondere Rolle in Dresden gespielt, als exemplarisch für eine zeitgenössische Sichtung dieses Erbes hebt Uecker in diesem von seiner Chefdramaturgin Ilsedore Reinsberg verantworteten Buch „Turandot“ und „La traviata“ hervor – beide Inszenierungen stammen von Andreas Homoki und verkörpern für den Intendanten „Brisanz und Zeitnähe“, wie „nie zuvor in dieser Klarheit formuliert.“
Die prägendsten Eindrücke hinterließ Ueckers Ära aber im Opernschaffen des 20. und 21. Jahrhunderts. Gewiss knüpfte das Haus nicht an frühere Uraufführungstraditionen an, doch der Spagat zwischen Moderne und Mythos scheint recht gelungen. Neben Auftragswerken wie „Der gute Gott von Manhattan“ von Adriana Hölszky (UA 2005) und „La Grande Magia“ von Manfred Trojan (UA 2008) sowie – mit Abstrichen – auch der erstaunlich positiv aufgenommenen europäischen Erstaufführung von Jake Heggies und Terrence McNallys gläubig-kleisterndem „Dead Man Walking“ (2006) waren es vor allem Werke aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts, die nachhaltig beeindruckten. Othmar Schoecks „Penthesilea“, Paul Hindemiths „Cardillac“ (beide Opern in den 1920er-Jahren in Dresden uraufgeführt), nicht zuletzt Franz Schmidts „Notre Dame“ – hier wurden eindeutige Bekenntnisse zum Bildungsauftrag des Theaters im besten Lessingschen Sinne abgegeben, eingedenk der damit verbundenen Risiken. Hans Werner Henzes „L'Upupa“ setzte diese Linie schlüssig fort.
Weit mehr Wagnis in Ueckers Amtszeit zeigte die „kleine szene“; bis zur kürzlich erfolgten Schließung dieser Spielstätte galt das geschichtsträchtige Haus als Experimentierfeld par excellence. Hier bekamen jugendliches Aufbegehren und Ausprobieren ihre Chance. Nur leider nicht immer die verdiente Aufmerksamkeit …
Dass in den zehn Kapiteln von „Beständig ist nur der Wandel“ – der Titel geht auf Heraklit zurück und findet sich variiert auch in diversen späteren Quellen – nicht nur Oper eine Rolle spielt, sondern auch Interpretationsmöglichkeiten, die Arbeit des Opernchors, experimentelles Schaffen, Raum für Neues außerhalb des Semperbaus etwa im Festspielhaus Hellerau und in Räumen der Technischen Universität Dresden, das alles macht die Zeitzeugenschaft dieses Buches aus.
Ausführlichkeit gilt auch dem Ballett, der Sächsischen Staatskapelle und der Reihe Jazz in der Oper. In Summa wird hier Erinnerungsarbeit geleistet, bleiben auf den Moment der Bühnenpräsenz gerichtete Arbeiten langfristig erhalten. Aber über das pure Memorieren hinaus werden Begrifflichkeiten von Leiblichkeit, Schönheit, Spiel und Wirklichkeit untersucht, wird der Blick auf Kooperationen und hin zu Jugendarbeit gerichtet, kommen junge Menschen zu Wort, die in Opernprojekten mitverfolgen konnten, was Opernarbeit ausmacht. Statistiken, Bildungsarbeit und -netzwerke sind dargestellt, Aufsätze zu Neuer Musik, zu Masken und selbst zu Schuld und Sühne finden ihren Platz in diesem Konvolut.
Inmitten theoretischer Texte und opulenter Optik spüren die Autoren dem „Mythos Semperoper“ nach – und leisten damit eine veritable Fortschreibung der bisherigen Dokumentationen zum Dresdner Musiktheater. Im Schnelldurchlauf geht es vom einstigen Hoftheater über die spektakuläre Uraufführungsstätte von Strauss- und Wagner-Opern hin zur grandiosen Ruth-Berghaus-„Elektra“. Der Übergang von Hofoper zur Staatsoper allerdings scheint allzu verkürzt dargestellt, hier wäre mehr Mut zur Enthüllung der Vorgänge in dunkler Schattenzeit auch in Dresdens Theaterbetrieben zu wünschen gewesen.
Gebührend ausführlich wird hingegen die Nachkriegszeit dargestellt, in der Dresdens Musiktheater vierzig Jahre lang ohne Semperoper auskommen musste. Deren Wiedereröffnung 1985 und die sich daraus ergebenden Festtage „25 Jahre Neue Semperoper“ in Gerd Ueckers letzter Spielzeit fassen Historie ebenso wie die alljährlichen Sinfoniekonzerte im Gedenken an Dresdens Zerstörung vom 13. Februar 1945 zusammen. Keine Frage, dass Beethovens „Fidelio“ in der geradezu legendären Deutung durch Christine Mielitz hier eine besondere Rolle spielt. Im selben Zusammenhang ist auch das äußerst engagierte Projekt „Wie liegt die Stadt so wüste, die voll Volkes war …“, dessen deutsche Erstaufführung 2004 herauskam, beschrieben. Eine Huldigung an den geschundenen Geist dieses Ortes!
Seit der Wiedereröffnung des Opernhauses 1985 trifft hier ein enormes Publikumsinteresse vor allem auf den prächtigen Bau. Nicht immer ist damit eine adäquate Wertschätzung der Theater- und Konzerterlebnisse verbunden. Den Machern ist dieser Widerspruch durchaus bewusst. Dass vieles aus der reichhaltigen Operngeschichte der Nachwelt bewahrt bleibt, ist nicht zuletzt Koproduktionen mit öffentlich-rechtlichem Rundfunk zu danken. In den Editionen zu Staatskapelle und Staatsoper gräbt MDR Figaro in Zusammenarbeit mit Günter Hänssler seit Jahren Raritäten aus. Allein die CD-/DVD-Box „Fritz Busch und Dresden“ erwies sich als Würdigung von unschätzbarem Wert und zugleich als Versuch einer Wiedergutmachung für den 1933 mit Duldung des Orchesters vom Pult vertriebenen Dirigenten. Die jüngste Hervorbringung ist eine Doppel-CD mit Christian Thielemanns gefeierter „Brautschau“ (F.A.Z.) und Anton Bruckners Symphonie Nr. 8 c-Moll. Der designierte Chefdirigent der Staatskapelle wird 2012 bekanntlich die gegenwärtige Kopflosigkeit des Orchesters beenden.
Sinn des Theaters
Mit „Kunst macht reich“ ist ein weiteres Kapitel des ausführlichen Uecker-Nachrufs überschrieben. Sachsens Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst äußert sich darin mit einem Bekenntnis zu Investitionen für Kunst und Kultur, die keine Subventionen seien, sondern der „ideellen Wertschöpfung“ sowie dem „künftigen kulturellen Reichtum“ dienten. Ähnlich wird dies auch in einem Gespräch mit dem Verwaltungsdirektor der Staatsoper deutlich, der den Zusammenhang von Kunst und Geld, von Geld und Kunst analysiert. Mit einer Reihe von Aufsätzen, die Gerd Uecker einmal mehr als kunstsinnigen Bewahrer von Beständigkeit und Bejaher von Wandel erlebbar werden lassen, schließt der Bild- und Textband. Er bietet weit mehr als nur rückblickende Würdigung von sieben Jahren Intendant.
Von nachhaltigem Nutzen ist allein schon der Anhang, in dem sämtliche Premieren der Ära Uecker zusammengetragen sind und das gesamte künstlerische Personal aufgelistet ist. Die Übersicht umfasst zudem das komplette Repertoire einschließlich konzertanter Opern, alle Uraufführungen der Staatskapelle, Sonderveranstaltungen sowie Publikationen und Tonträger.
Sie ist also nicht etwa zu schnell fotografiert, diese Oper. Sondern sie dreht sich tatsächlich. Am 4. Juli beschloss Straussens „Rosenkavalier“ die Dresdner Ära von Gerd Uecker. Dieselbe Oper wird am 21. August die Intendanz seiner Nachfolgerin Ulrike Hessler einleiten. Dresdens Wandel liegt tatsächlich in Beständigkeit.
Beständig ist nur der Wandel. Über-Regionale Ermunterungen aus der Semperoper – Intendanz Gerd Uecker 2003 bis 2010
411 Seiten, 29 Euro (Subskriptionspreis bis 31. August 24,80 Euro)
Dresden Buch, ISBN 978-3-9812287-5-5