Herbert Blomstedt ist ein Phänomen. In aller Welt liegen ihm die Musikliebhaber zu Füßen. In Sachsen aber lieben sie ihn. Der Grund? Nirgendwo ist er so lange tätig gewesen wie hier. Erst ein Jahrzehnt bei der Staatskapelle in Dresden, dann sieben Jahre am Gewandhausorchester zu Leipzig. Noch immer arbeitet er mit beiden Klangkörpern als Gastdirigent. Am 11. Juli begeht der Maestro seinen 90. Geburtstag. Von Michael Ernst.
Herbert Blomstedt geriet schon sehr früh in den Bann der Musik, von dem bis heute sein ganzes Leben geprägt ist. Aufgewachsen ist der 1927 in San Francisco geborene Sohn schwedischer Eltern mit Klavier- und Geigenunterricht, auch wenn zunächst seine Liebe zum Fußball noch überwog. Erst mit etwa zwölf Jahren habe sich das schlagartig geändert, erinnert er sich: „Von da an habe ich jeden Tag gleich nach der Schule mit großer Begeisterung geübt, die Schulaufgaben kamen erst danach.“ Auslöser für diesen nachhaltigen Interessenwandel sei zunächst sein Violinlehrer gewesen, dann aber auch „das perfekte Konzerthaus von Göteborg“, so Blomstedt. Dort habe er zweimal die Woche im Sinfoniekonzert gesessen, immer donnerstags und sonntags. Außerdem wurde an Sonntagen regelmäßig in der Familie sowie mit Freunden Kammermusik gemacht; der weitere Lebensweg war beinahe vorgezeichnet.
Aber nur beinahe: „Selbst an der Musikhochschule Stockholm hatte ich noch nicht das Ziel, Dirigent zu werden. Ich habe Klavier, Orgel und Violine gespielt, hatte zunächst überhaupt kein Verhältnis zur Vokalmusik, aber ein Semester Chorsingen hat mich da absolut bekehrt.“ Der erste Anstoß hierzu erfolgte durch Johann Sebastian Bach und dessen Kantate „Singet dem Herrn ein neues Lied“. Herbert Blomstedt war Konzertmeister im Hochschulorchester und begann sich von dieser Position aus allmählich für das Dirigieren zu interessieren. „Aber nicht das Dirigieren an sich, sondern die sinfonische Musik war für mich interessant. Als ich zum besseren Kennenlernen die Dirigentenklasse besucht habe, war es um mich geschehen.“ Er wollte der Musik so nahe wie möglich kommen, erklärt er im Rückblick und unterstreicht: „Gewalt über 100 Leute zu haben, das war nie mein Ziel.“
Die Magie des Dirigentenberufs
Ein eher tragisches Ereignis brachte Herbert Blomstedt auf den für sein Leben so prägenden Kurs: „Als ein Mitglied des Königshauses verstarb, sollte ich das „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms dirigieren. Diese Musik gestalten zu können, das war fantastisch!“ So verabschiedete sich Herbert Blomstedt von seinen frühen Träumen – „Ursprünglich dachte ich, in einem Streichquartett zu spielen, wäre das Schönste. Oder Organist zu sein und jeden Sonntag eine Bach-Kantate spielen!“ – und studierte erst einmal Musikwissenschaften. „Ich wollte mich auf das Dirigentendasein gut vorbereiten, war sehr fleißig und erhielt daher ein Stipendium für New York. Dort habe ich am meisten gelernt, aber nicht an der Uni, sondern bei Proben in der Carnegie Hall. Diese Stunden mit Arturo Toscanini und Bruno Walter sind mir unvergesslich geblieben.“
Erlernte er dort die Magie dieses Berufes, für den es weit mehr als für manch anderen einer inneren Berufung bedarf? Altmeister Blomstedt ist heute noch davon überzeugt, dass Magie überaus wichtig sei, just die könne man aber nicht studieren. „Handwerk muss man studieren, keine Frage. Verglichen mit der Instrumentalausbildung ist der Beruf des Dirigenten ja relativ modern. Die Orchestermusik ist aber so kompliziert, dass gründliches Handwerk unbedingt vonnöten ist.“ Magie aber sei etwas, das man entweder hat oder wofür man von Geburt an prädestiniert ist. „Wer am Pult nur auf seine Magie vertraut, hat nicht viel Respekt vor dem Orchester. Die Überzeugungskraft eines Dirigenten muss sich entwickeln, weil wir ja alle als Mensch reifen.“ Es klingt wie ein Fazit seiner reichen Erfahrungen, wenn Herbert Blomstedt sagt, von Magie könne man sich inspirieren, solle sich aber nicht davon leiten lassen.
Als Dirigent debütierte er 1954 mit dem Philharmonischen Orchester Stockholm, seitdem hat er als Chefdirigent namhafter skandinavischer Klangkörper gewirkt. Von 1975 bis 1985 war Herbert Blomstedt Chef der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Mit diesem Orchester bereiste er zwanzig Länder Europas sowie die USA und Japan, zahlreiche Schallplatteneinspielungen belegen diese rekordverdächtige Zusammenarbeit noch heute. „Ich habe damals sehr gezögert, die Position als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle anzunehmen. Nicht, weil das Orchester nicht gut genug war, sondern umgekehrt: Ich habe mich gefragt, ob ich gut genug war für dieses Orchester?“
Seine erste Begegnung mit der Kapelle hatte Herbert Blomstedt wesentlich eher: „Die hatte ich als kleiner Schuljunge am Radio. Schon da war ich fasziniert von diesem Orchester, später hat sich das beim Schallplattenanhören noch intensiviert.“ Noch heute erinnert er sich an sein erstes Kapellkonzert 1969, als er neben Hindemith und Brahms die Erstaufführung von Carl Nielsens 5. Sinfonie dirigierte.
„Das vergesse ich nie. Schon die Anreise, nachts auf der Fähre von Trelleborg nach Sassnitz. Wir sind aus dem Schlaf gerissen worden, dann wurde das ganze Abteil bis ins Kleinste kontrolliert. Beim Umsteigen in Berlin fühlte ich mich sehr allein und verlassen. Und bei der Ankunft in Dresden sah es schlimm aus, der Bahnhof, die Stadt, alles kaputt. Aber dann stand da lächelnd der Orchesterdirektor und ich war in einer anderen Welt! Eine so herzliche Begrüßung! Und erst die Proben: Nielsen war völlig unbekannt, aber alle waren perfekt vorbereitet und hochkonzentriert. Ich kannte bis dahin nur Schallplattenaufnahmen und war davon schon überwältigt. Welch großartiger Moment in meinem Leben, nun leibhaftig vor diesem Orchester zu stehen!“
Stolz auf eine lange Zusammenarbeit
Noch immer spüre er eine tiefe Dankbarkeit für solche Begegnungen. Spätere Engagements führten den schwedischen Künstler u.a. ans San Francisco Symphony Orchestra sowie zum NHK Tokyo, beide Klangkörper revanchierten sich mit Blomstedts Ernennung zum Ehrendirigenten. Orchester in Bamberg, Kopenhagen und Stockholm sind diesem Beispiel gefolgt. Ebenso natürlich auch die Staatskapelle sowie das Gewandhausorchester: Von 1998 bis 2005 wirkte er in der Nachfolge von Felix Mendelssohn-Bartholdy als 18. Gewandhauskapellmeister in Leipzig. Auch dieser Fakt ist phänomenal: Der Schwede Herbert Blomstedt hatte an den beiden wichtigsten sächsischen Orchestern Chefpositionen inne, bei dem einen vor und bei dem anderen nach der politischen Wende.
„Ich habe 25 Jahre in Sachsen gearbeitet, das ist mehr als irgendwo sonst auf der Welt. Schon ein Jahr nach dem Dresden-Konzert von 1969 bin ich übrigens nach Leipzig eingeladen worden, das Gewandhausorchester zu dirigieren. Das war mit Beethovens 5., damals noch in der Kongresshalle. Danach gab es eine Weile jedes Jahr ein Konzert.“ Stets sei er von der Hingabe beeindruckt gewesen, die hier auch im Publikum gegenüber Musik und Kultur geherrscht habe.
Sowohl die Sächsische Staatskapelle als auch das Gewandhausorchester zählt er heute zur absoluten Weltspitze: „Auch wenn ich sonst nichts von diesen olympischen Wettbewerben halte, welches Orchester nun an welcher Stelle steht. Sowohl die Staatskapelle als auch das Gewandhausorchester haben eine ganz besondere Klangkultur, darum geht es. Die hat sich im Laufe vieler Jahre entwickelt, nicht zuletzt wegen des besonderen Repertoires. Natürlich spielen beide eine enorme Bandbreite, aber das Kernrepertoire ist geblieben und hat sie geformt. Ich bin sehr stolz auf diese Zusammenarbeit.“
Sowohl im direkten Gegenüber als auch am Dirigentenpult wirkt Herbert Blomstedt nach wie vor jugendlich frisch. Geradezu knabenhaft, mitunter sogar – immer wieder überraschend – eine Spur schelmisch. Und in seinen Worten grundehrlich: „Wenn Sie Musik wirklich lieben, können Sie auch vom Schlechtesten etwas lernen. Vor einem Orchester blicke ich in die Seelen von 100 Musikern, da finde ich Sachen heraus, die man sich gar nicht vorstellen kann.“ Diesen natürlichen Respekt habe er bereits als sehr junger Dirigent verinnerlicht. Denn damals, in den 1940er und 1950er Jahren, waren die Orchestermitglieder „wie kleine Götter für mich“, hatten mit Großmeistern wie Furtwängler und Toscanini gespielt. „Was kann man da als junger Musiker zeigen?“ Begriffe wie „Demut“ und „Disziplin“ sind für Herbert Blomstedt nicht bloße Worte, sie haben als ethische Haltung sein ganzes Leben bestimmt. Bis heute strahlt er das aus, im Gespräch ebenso wie in der Musik.
Umso mehr darf die Frage erlaubt sein, wie er sich für sein nach wie vor enormes Arbeitspensum in Form hält? „Ein bisschen vernünftig muss man schon sein. Doch in der Hauptsache fühle ich mich beschenkt, was meine Gesundheit betrifft. Ich bin zwar Vegetarier, rauche und trinke auch nicht, aber ich hüte mich immer, deswegen überheblich zu sein. Wie wir wissen, gab es auch sehr lasterhafte Menschen, die sehr alt geworden sind. Denken Sie nur an Churchill. Es ist also weniger ein Verdienst als ein Geschenk, dass ich so tätig sein kann.“