Dirigenten-Legende Gennadi Roschdestwenski ist fast 85, steckt voller Pläne und wird – wieder einmal – für sein Lebenswerk geehrt. Diesmal mit dem Internationalen Schostakowitsch-Preis Gohrisch. Michael Ernst sprach mit ihm.
Auf Musikkritiker ist er bekanntlich nicht gut zu sprechen. Wenn ein Vertreter dieser Zunft schlecht über ihn schreibt, würde er ihm gern mal Partitur und Taktstock in die Hände drücken und zuhören wollen, was dann daraus wird. Aber welcher Kritiker würde eine Dirigenten-Legende wie Gennadi Roschdestwenski schon bemäkeln wollen, was sollte es an solch einer Ikone zu kritisieren geben?
Bei diesem Wort stutzt der Maestro: „Ich, eine Ikone? Das ist für mich neu. Es klingt ja sehr schön, eine Ikone zu sein. Andererseits ist es sehr kompliziert, denn eine Ikone betet man an. Ich aber habe zumeist etwas mit einem Orchester zu tun. Und mit Musik. Ich bin also lieber ganz einfach ein Mensch.“
Dass er das russische, ja das europäische Musikleben des vergangenen Jahrhunderts ganz wesentlich mitgeprägt habe, lässt er nicht gelten. „Das war nicht meine Absicht. Ich habe viele Orchester dirigiert, fast 800 Schallplatten eingespielt und wundere mich manchmal selbst, wann ich das alles gemacht haben soll.“ Er habe darüber nicht nachgedacht, das Musikleben geprägt oder wenigstens mitgeprägt zu haben. „Das schmeichelt mir zwar, aber ich komme und ich dirigiere, das war‘s. Ich habe also eine ganz einfache Einstellung zu meinem Beruf.“ Genau dieses Geheimnis versprach er, im Gespräch nach einer Probe mit der Dresdner Philharmonie zu lüften. „Hier sehen Sie die Partitur der 5. Sinfonie von Sergej Prokofjew. Auf der ersten Seite habe ich notiert, wo und wie oft ich sie dirigiert habe. Seit 1963 waren es 51 Konzerte in 14 Ländern und 24 Städten. Deswegen denke ich, dass ich inzwischen gut vorbereitet bin. In dieser Zeit habe ich natürlich ein Bild von diesem Werk erhalten, ich kann mich in jeden Takt hineindenken, wie er – meines Erachtens – klingen soll.“
Gut vorbereitet? Der Mann hat Witz, das klingt nicht mal kokett, das ist Ausdruck begründeten Selbstbewusstseins, das er selbst immer wieder in Frage stellt. Eine Maxime, die nicht nur im Dirigenten- und Musikerberuf viel mehr Verbreitung finden sollte.
Geheimnisvolle Demut
„Das bedeutet doch nicht, dass alles richtig ist, was ich mache. Es kann sogar sein, dass nichts richtig ist. Aber ich nehme an, wenn gar nichts richtig wäre, würde man mich nicht einladen. In den Proben klingt das oft ganz anders als im Konzert, deswegen quäle ich die armen Orchester ja so sehr. Bis das, was ich höre, zu dem passt, was ich bei der jeweiligen Musik fühle. Hundert Prozent passt es wohl nie, was aber nichts mit der Qualität der Orchester zu tun hat. Das ist das Geheimnis meines Berufs.“
Gennadi Roschdestwenski stellt sich in den Dienst der Musik, eine tiefe Eigenheit so ziemlich aller großen russischen Dirigenten. Offenbar gehört also doch so etwas wie Demut zu diesem Geheimnis?
Sofort kontert der Meister: „Sonst würde ich mir doch nicht erlauben, mich ans Dirigentenpult zu stellen! Jede Musik ist einzigartig und müsste von vielen, von viel mehr Menschen gehört werden. Das ist das Ziel meiner Arbeit.“ Dabei war Roschdestwenski doch immer schon einer, dem man zugehört hat, über viele, viele Jahrzehnte. Daraus ist ja erst dieser Nimbus von der Legende erwachsen. Der 1931 in Moskau geborene Künstler ist Chef des Staatlichen Rundfunk-Sinfonieorchesters der UdSSR, Künstlerischer Leiter am Bolschoi und Musikchef der Moskauer Kammeroper gewesen. Später leitete er das Londoner Symphony Orchestra, war ab 1981 Chefdirigent der Wiener Symphoniker und leitete gar zum wiederholten Mal die Stockholmer Philharmonie.
„Musik in die Welt tragen!“
Was ihm auf immer anhängen wird: Er war der erste sowjetische Vorzeigekünstler, der Chefposten im Westen annehmen durfte. Doch wenn er auf diesen besonderen Stellenwert angesprochen wird, winkt er rasch wieder ab: „Das war für mich persönlich natürlich bedeutsam, aber viel wichtiger ist doch, dass es ein Präzedenzfall für viele andere gewesen ist. Und dass wir unsere Musik in die Welt getragen haben!“
Musik in die Welt tragen, das tut er bis heute. Unermüdlich, energiegeladen, mit ansteckendem Enthusiasmus. Jüngst erst wieder in Dresden. Das sei für ihn eine Stadt mit besonderer Geschichte. Natürlich denke er zuerst an die dortigen Kunstsammlungen. Dann aber auch an die Schrecken im Zweiten Weltkrieg, die untrennbar mit dem Leid verbunden bleiben werden, das seinem Vaterland aus deutscher Hand zugefügt worden ist.
Der Musiker Gennadi Roschdestwenski sieht das heutige Dresden als eine Stadt mit zwei Weltklasse-Orchestern, die ihm beide sehr präsent sind. „Die Staatskapelle habe ich vor vielen, vielen Jahren zu den Salzburger Festspielen dirigiert. Mit der Philharmonie habe ich vor einigen Jahren Schostakowitschs 1. Sinfonie und die Filmmusik zu ‚Fünf Tage, fünf Nächte‘ gespielt. Zwei sehr gute Orchester!“ Bei seinem letzten Dirigat der Philharmonie kam Roschdestwenski mit seinem Sohn Sascha und dem Violinkonzert von Alexander Glasunow. Diesmal war unter anderem dessen 1. Klavierkonzert mit des Meisters Ehefrau Wiktoria Postnikowa zu hören. In einer Interpretation, die emotional und energetisch hinreißend gelungen ist, zu der aufmerksame Musikkritiker aber anmerken müssen (auch auf die Gefahr hin, nun den Taktstock in die Hand gedrückt zu bekommen), dass die Raffinessen von Solo- und Orchesterpart nicht in jedem schwungvollen Lauf der Variationen im zweiten Satz eine vollendete Übereinstimmung erlebt haben. Eine Anmerkung, die wahrlich nicht nach der Übernahme des Dirigentenpostens giert!
Gennadi Roschdestwenski stammt aus einer Musikerfamilie. Inzwischen steht sein Name längst für eine Musikerdynastie? Aber auch da wiegelt er ab: „Die Dynastie ist nicht wichtig, wichtig ist die Qualität in der Dynastie. Wenn mein Sohn schlecht Violine oder meine Frau schlecht Klavier spielen würde, hätte ich sie nie eingeladen.“
„Ein ganz fantastischer Preis“
Viel wichtiger seien ihm die Kompositionen und deren Komponisten. Alexander Glasunow zum Beispiel, dem einstigen Lehrer von Schostakowitsch und von Prokofjew. Vom Schaffen dieser beiden einander so ählichen wie unterschiedlichen Künstler hat Roschdestwenski zeitlebens gezehrt. Insbesondere zu Dmitri Schostakowitsch gibt es sehr enge Bindungen. Kein Wunder also, dass der Moskauer Meister bei seinem jüngsten Dresden-Besuch auch einen Abstecher in die Sächsische Schweiz unternehmen musste, wo er am 20. Januar den Preis des Internationalen Schostakowitsch-Festivals Gohrisch entgegennahm. Diese Ehrung sei ihm eine ganz große Freude gewesen, gestand er. „Aber die größte Freude für mich war, ihn selbst kennenzulernen. Er war nicht mein Lehrer, aber es ist so gekommen, dass er mein Lehrer ist. Das ist es, was für mich so bedeutend wurde. Das ist also ein ganz fantastischer Preis.“
Damit werden auch Roschdestwenskis Verdienste um das Werk von Dmitri Schostakowitsch gewürdigt. Er hat sämtliche Orchesterwerke von ihm eingespielt, seine Oper „Die Nase“ an der Moskauer Kammeroper quasi rehabilitiert und mehrfach mit ihm selbst zusammengearbeitet. Den Stellenwert Schostakowitschs in seinem eigenen Leben wagt er aber kaum zu beschreiben.
„Ja, ich habe alle seine Werke eingespielt, die Sinfonien, Opern und Ballette, die Konzerte und auch die Filmmusik. Was er hinterlassen hat, ist sehr viel – und sehr tief. Wenn man das alles aufgenommen hat, möchte man am liebsten von vorn anfangen, denn das Leben bringt ja auch Korrekturen mit sich.“ Über seine persönliche Beziehung zum Komponisten mag er sich lieber nicht äußern. „Ich habe mir natürlich Gedanken gemacht, was ich in Gohrisch dazu sagen werde. Aber dazu reicht ein Abend nicht. Darüber kann ich nicht in Kürze reden, meine Arbeit mit Schostakowitsch, das würde eine Fortsetzungsserie werden. Wenn mich jemand fragt, wie war Schostakowitsch als Mensch, als Persönlichkeit, dann kann ich nur sagen, schauen Sie sich seine Partituren an. Dann werden Sie vielleicht fünfzig Prozent von ihm verstanden haben.“
Zur Preisverleihung, die ihn nun in eine Reihe mit Rudolf Barschai, Kurt Sanderling, Michail Jurowski, Natalia Gutmann, Gidon Kremer sowie dem Borodin-Quartett stellt, plauderte der Altmeister dann aber doch. Charmant, aus präzisem Gedächtnis verriet er, wie genau der Komponist zuhören konnte, wie vorsichtig und wohlüberlegt er seine Pointen aus seinem langen Musikerleben setzen konnte. Welcher Kritikaster hätte ihm da den Stab aus den Händen nehmen mögen …?
Leider musste der Meister das zweite geplante Konzert ausfallen lassen, da er auf dem Weg zur Spielstätte im winterlichen Dresden gestürzt war. Wir wünschen natürlich rasche Genesung.