„Als ich Charles Aznavour in Georges Franjus schönstem Film ‚Mit dem Kopf gegen die Wände‘ sah, war es Liebe auf den ersten Blick,“ schrieb Truffaut 1960, als er gerade den Film abgedreht hatte, der Aznavour zur Kinoikone gemacht hatte: „Schießen Sie auf den Pianisten“. „Was ich an ihm so aufregend fand? Seine Zerbrechlichkeit, seine Verwundbarkeit, seine gleichermaßen unterwürfige wie anmutige Gestalt, die mich an den heiligen Franziskus von Assisi denken ließ.“
1960 hatte so langsam die Weltkarriere von Aznavour Fahrt aufgenommen. Entdeckt hatte den Pariser Sänger mit armenischen Wurzeln Mitte der 40er-Jahre Edith Piaf, die etwa zeitgleich auch Yves Montand unter ihre Fittichen genommen hatte. Aznavour war ein Kind der Music-Hall. Dort hat er alles gelernt, was er später in seinen eigenen Shows im Olympia so unvergleichlich präsentiert hat. Anfangs galt er als „hässlich“ und seine Lieder, die er mit einer „schrecklichen Stimme“ vortrug, als „unpopulär“. Als ihn 1956 Eddie Barclay unter Vertrag nahm, änderte sich das langsam. Und man sprach von einem „Timbre von Sand und Rost“. Anfang der sechziger Jahre kam dann auch der Durchbruch in Deutschland. Aus allen Musikboxen erklang das Chanson, das zumindest in Deutschland sein Erkennungslied wurde: „Du lässt dich geh‘n“.
Mit „Schießen Sie auf den Pianisten“ wurde der „mondsüchtige“ (Truffaut) Aznavour wie Jean-Paul Belmondo in Godards „Außer Atem“ zur Ikone der Nouvelle Vague. Truffaut vergleicht Aznavours Verwundbarkeit mit der des jungen Jean Gabin: „Charles verfügt seinerseits über eine erstaunliche Veranlagung, die es ihm ermöglicht, den außergewöhnlichsten Situationen ein Höchstmaß an Wahrheit und Einfachheit zu verleihen und dies mit einer großen Sparsamkeit der Mittel zu erreichen. Seine Stimme, seine Gestik, alles stimmt von Anfang an.“
Truffaut spricht natürlich über den Filmschauspieler, aber all das trifft auch auf die „Performance“ seiner Chansons zu. Im Deutschland der 60er-Jahre prägte die Erscheinung Aznavours viele Fernsehshows von Kulenkampff & Co. Zusammen mit Gilbert Becaud verkörperte er gewissermaßen hierzulande durch seine Art das französische Chanson, das damals viel zur beginnenden Völkerverständigung zwischen den einstigen „Erzfeinden“ Frankreich und Deutschland beitrug. Barbaras „Göttingen“ hatte in jenen Jahren die Brücke gebaut. Über 1.000 Chansons soll Aznavour geschrieben haben. Am berühmtesten wurde „Hier encore“, das in der kongenialen englischen Version „Yesterday When I Was Young“ um die Welt ging und zum Evergreen wurde. Roy Clark machte es in den USA zum Country-Hit und Dusty Springfield sang die vielleicht schönste und herzzerreißendste Version davon. In den frühen 70er-Jahren gelang ihm dann noch ein weiterer Welthit: „She“. Ein Lied, das Ende des 20. Jahrhunderts ein Eigenleben entwickelt hat, in der Version von Elvis Costello in dem Publikumshit „Notting Hill“. Zusammen mit Georges Garvarentz hatte Aznavour im Übrigen selbst viele Soundtracks komponiert.
In den 90er-Jahren erlebte Aznavour einen zweiten künstlerischen Frühling. Er sang im Duett mit Frank Sinatra oder Liza Minnelli. Und nahm 1997 zusammen mit seiner einstigen Entdeckerin Edith Piaf, die 1963 gestorben war, ein wunderbares Geisterduett auf: „Plus bleu que tes yeux“. 2008 wurde Aznavour die armenische Staatsbürgerschaft verliehen. Danach wurde er armenischer Botschafter in der Schweiz. Bis zuletzt unternahm er immer wieder Welttourneen. Im Alter von 94 Jahren ist Charles Aznavour am 1. Oktober gestorben.