Mildes Spätnachmittagslicht lag am 4. Juni 2017 über der Universität Siegen. Sechs Jahrzehnte zuvor war sie neben einer Groß-Deponie als Pädagogische Hochschule aus dem Bergboden gestampft worden. Friedrich Cerha aus Wien wurde für sein Lebenswerk mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Der Vorlesungs- und Kammermusiksaal in einer von Wundmalen des Fortschritts gezeichneten Umgebung mochte als sinnbildlich geeigneter Ort für die Feierstunde erscheinen, auch der pädagogische Ursprungs-Impuls des Instituts und der Blick auf die Recycling- und Abfallentsorgungsanlage.
Der Siegener Musikwissenschaftler Matthias Henke würdigte den österreichischen Komponisten als „hoch intellektuellen Autor“. Zugleich hob er „die sinnliche Kraft seiner Musik“ und die in ihr aufgehobene Erbschaft von Kultur der k.k.-Monarchie hervor. Die Laudatio holte weit aus bei der Aufklärung, bei Kaiser Joseph II. und dessen speziellen Bemühungen z.B. um die bis dahin gedankenlos weggesperrten ‚Geisteskranken‘, für die er in besonderer Weise beten und bauen ließ. Erinnert wurde daran, dass sich bereits eine Generation vor Mozart, Haydn und Beethoven mit Komponisten und Kapellmeistern wie Johann Joseph Fux, Antonio Caldara, Georg Muffat und Georg Christoph Wagenseil eine Erste Wiener Schule etabliert hatte. Sie habe sich, wie ein aufmerksamer Beobachter damals schrieb, durch „Gründlichkeit ohne Pedanterey, Anmuth im Ganzen, noch mehr in einzelnen Theilen“ ausgezeichnet, allerdings „vielleicht etwas zu viel komisches Salz“ beigegeben (Christian Friedrich Daniel Schubart).
Die Festrede erinnerte auch an die im Jahr 1954 abgeschlossene Promotion Cerhas über die Turandot-Stoffgeschichte sowie sein spezifisches Interesse an der Musik des Ostens, insbesondere auch für arabische Musik. Der Geehrte griff die Hinweise auf sein Interesse an Orient und Orientalistik dankbar auf. Höchst lebendig erinnerte er an die extremen Umstände zu Beginn seines Studiums im Wiener Winter 1945/46 und das befreiende „geistige Flanieren durch die verschiedensten Fächer und Felder“, dann an den Musiktheoretiker Erwin Ratz und den in den Jahren der NS-Herrschaft im Untergrund tätigen Musikpädagogen und Ministerialbeamten Josef Polnauer. Beide engagierten sich in besonderer Weise für die Analyse der Werke der zweiten Wiener Schule. Sie seien die „eigentlichen Leitfiguren für die kompositorische Orientierung“ gewesen. Cerha, damals bereits jenseits des 90. Lebensjahrs, verkniff sich schließlich weder Aperçus zur Titelgeilheit im akademischen und künstlerischen Milieu noch Kritik an der seiner Ansicht nach omnipräsent gewordenen „Fach-Idiotie“. So würzte er eine denkwürdige akademische Feierstunde mit jener Resistenz, die schon im vorigen Jahrhundert eine rare Erscheinung war – und es heute erst recht ist.
Eine keineswegs gradlinige Wiener Laufbahn
Cerha, 1926 geboren, war von Herzen und mental Wiener. Mit der klassischen Musikpflege wie mit der eleganten und ungebärdigen Volksmusik seiner Heimat, silbernem Operettengut, Walzern, Märschen und tradierten Volksweisen wuchs er in den ökonomisch mageren und politisch wirren 30er Jahren auf. Er erhielt Violin-Unterricht, Unterweisung in Harmonielehre und Kontrapunkt, spielte auch in Hernalser Vorstadtetablissements als zweiter Geiger bei Hochzeiten, Bällen oder Banketten. Er wusste also auch, wie Schrammel-Musik geht. Vier Jahrzehnte später erinnerte sich Cerha an diese Idylle der Jugendtage und schöpfte aus ihnen seine „Keintate“.
Doch erst einmal gingen der Lebensweg und die kompositorische Sozialisation in ganz andere Richtungen. Noch vor Beendigung der Gymnasialzeit wurde Cerha 1943 zur Wehrmacht eingezogen, desertierte und schlug sich 1945 als Bergführer in Tirol durch. Dann begann die Ausbildung in Wien. Er belegte Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft an der Universität, absolvierte zugleich – wie zum Beispiel der Altersgenosse Karlheinz Stockhausen in Köln – ein breit angelegtes Schulmusik-Studium. Dazu besuchte er die Kompositionsklasse von Alfred Uhl, der in den 30er Jahren als Film-Komponist bekannt wurde.
Die Zweite Wiener Schule und ihre Errungenschaften, die freie Atonalität und die Zwölf-Ton-Technik, wurden in den Kriegsjahren wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit an ihrem Ursprungsort ebenso ignoriert wie im übrigen Europa. Die Schulhäupter konnten sich selbst nicht mehr zu Wort melden: Alban Berg war Ende 1935, noch vorm „Anschluss“ Österreichs, gestorben, Webern 1945 versehentlich erschossen worden und Schönberg, ein alter kranker Mann, blieb fern – im kalifornischen Exil, wo er 1951 starb. Doch der Schönberg-Schüler Josef Polnauer engagierte sich in Wien für die Sache seines Lehrers und dessen Freunde. Und der junge Cerha wurde von ihm angeregt. Überhaupt war er, animiert vom Art-Club um Gerhard Rühm und andere aufbruchswillige Dichter und Bildende Künstler, erpicht aufs Neue. Das kam hörbar von Westen. So war es alles andere als zufällig, dass der 22jährige Cerha einem Bläser-Divertimento, mit dem er 1948 an die Öffentlichkeit trat, den Titel Hommage à Strawinsky gab.
Es folgten Lehrjahre. An verschiedenen Wiener Gymnasien und bei den Darmstädter Ferienkursen. Es entstand eine bemerkenswerte Anzahl von Kompositionen: Lieder und Kammermusik, die Klavierübung in barocken Formen für R.C., ein Klavierkonzert, während eines durch Stipendium ermöglichten Rom-Aufenthalts die Relazioni fragili für Cembalo und Kammerensemble sowie die Espressioni fondamentali für Orchester. Nach diesen Anläufen gründete Cerha 1958 mit Kurt Schwertsik das Ensemble die reihe. Das nun war ein klares Bekenntnis im damals heftigen Richtungsstreit um Gegenwart und Zukunft der Neuen Musik: für die Moderne der Zweiten Wiener Schule.
Deren Werke wurden ebenso auf den reihen-Spielplan gesetzt wie neue serielle Arbeiten. Wie abseitig das dem offiziellen Wien Ende der 50er Jahre noch erschien, belegt eine Anekdote: Der zuständige Beamte in der Kulturbehörde, die für die reihe um Subventionen ersucht wurde, soll die Anfrage mit dem Satz quittiert haben „Do könnt’ ja jeder Würschtlverkäufer kommen“. Dem Bekenntnis zur Vor- und Nachkriegs-Avantgarde, das Cerha freilich nicht auf die serielle Orthodoxie einschränkte, wurde Nachdruck verliehen durch den Umstand, dass der vielseitig tätige Dirigent und Komponist von 1959 an auch als Lehrer an der Wiener Musikhochschule wirkte. Er verpflichtete sich einem weitherzigen Verständnis von „konstruktivem Denken“.
Mit der Reihe zur großen Vielseitigkeit
Gelebt und gearbeitet hat er aber ganz schwerpunktmäßig in seinem Refugium Maria Langegg im Dunkelsteiner Wald. Dort wuchs der kompendiös-konstruktivistische Spiegel-Zyklus (für Großes Orchester und Tonband). Zusammenhängend wurde er erstmals 1972 in Graz aufgeboten, szenisch realisiert mit Bewegungsgruppen, Licht und Objekten am Münchener Nationaltheater 1979. Zugleich kam auch die von Cerha vollendete Lulu an der Pariser Oper heraus. Diese immense Arbeit, die siebzehn Jahre in Anspruch genommen hatte, schlug der großen Oper Alban Bergs eine Bresche im Repertoire, promovierte sie zu einem Chef d’œuvre des 20. Jahrhunderts.
Gestützt auf den Text des anarchischen jungen Bertolt Brecht, legte Friedrich Cerha Baal nach (Salzburg 1981). Wieder trat das Vorbild Alban Berg deutlich hervor. Denn der Komponist feierte weniger den Brechtschen Egozentriker und Chaoten Baal, sondern schrieb ein Requiem auf einen Bruder des Franz Woyzeck, den Georg Büchner dramatisch skizziert und Berg mit seinem Wozzeck zur Schlüsselfigur der musiktheatralischen Moderne erhoben hatte. Immer wieder befasste sich Cerha mit Requiem-Thematik (und nicht nur, weil der Tod der Metapher nach ein Wiener ist): Mit dem a-cappella-Chor Nichtigkeit ist alles (1955) nach einem Text des Buches Kohelet (Prediger Salomo), In memoriam Ernst Kein (1985, auf den Wiener Sprüchesammler und Freund), Monumentum für Karl Prantl (1988) und schließlich mit drei Sätzen für das 1995 in Stuttgart uraufgeführte Requiem der Versöhnung.
Schon für seinen Baal , wie dann für die folgenden Opern Der Rattenfänger (nach Carl Zuckmayer, Graz 1987, Darmstadt 2004) und Der Riese vom Steinfeld (nach Peter Turrini, Wien 2002, und Krefeld/Mönchengladbach 2004) wählte Cerha ein breites Spektrum kompositorischer Mittel und Verfahrensweisen. Alban Bergs dicht am Tonfall des Textes orientierte Singstimmenbehandlung wurde ebenso fortgeschrieben wie Weberns feinsinnige Klanggespinste, zugleich der Sound trivialer Kaschemmen und Schrammelmusik-Erbe integriert. Komplexe, und doch zugleich von der Idee des „Organischen“ gespeiste Großformen, die noch einmal „expressionistische“ Musik bedeuten mögen. Gerade auch für diese Arbeiten gilt, was C.F.D. Schubart schon Ende des 18. Jahrhunderts der Ersten Wiener Schule attestierte: „Gründlichkeit ohne Pedanterey, Anmuth im Ganzen, noch mehr in einzelnen Theilen.“ Allein das „immer lachende Colorit“ ist Cerha, wie schon seinen unmittelbaren Vorbildern, gründlich abhanden gekommen. Doch wen wundert das vor dem Hintergrund des 20. Jahrhunderts.
Eine wesentliche Schicht Wiener Mentalität
Teilweise parallel zur Endfertigung der Baal-Partitur entstand, wie mit leichter Hand rasch hingeworfen und in Rekurs auf Kindheitsmuster, die I. Keintate. Der Titel ist ein Amalgam aus Kantate und dem Namen des Textautors Ernst Kein, dessen Bänden Wiener Panoptikum und Wiener Grottenbahn die vertonten Sprüche entnommen sind. Anlässlich der Uraufführung im Wiener Metropol (1983) meinte der Komponist im Hinblick auf mögliche Missverständnisse (auch angesichts der Tatsache, dass sein früherer Kombattant Kurt Schwertsik inzwischen die Rolle eines Wiener „Originals“ perfektionierte und dessen Image vermarktete), er sei gefragt worden, ob er diese Keintate ernst nehme: „Die Frage hat mich überrascht und verdient eine ernste Antwort. Ich wollte mich nicht lustig machen über die Modelle der Volksmusik, ich wollte sie nicht als Aufputz, nicht als Gag benutzen, sondern ich bin von ihnen ausgegangen und habe sie angenommen, um durch Stilisierung, durch Verfremdung dann wieder zu einer Distanz zu kommen, häufig zu einer ironischen Distanz, und auch mitunter, um hinter die Modelle zu leuchten. Man sollte eine solche Gesinnung nicht mit einer Naivität verwechseln, die nicht weiß, was Klischee ist.“ Er liege da „auf einer Linie mit Ernst Kein, der den Leuten im lutherischen Sinn ‚aufs Maul schaut’ und Phrasen des Dialektjargons zunächst einmal annimmt, um sie dann durch Überdrehung zu pointieren. In diesem ‚wörtlichen’ Annehmen und Überzeichnen der Realität liegt der wesentliche Unterschied zwischen dieser Literatur und etwa der H. C. Artmanns, dessen Dichtungen im Dialekt aus dem Wiener Volksmilieu Poetisches destillieren.“
Die musikalischen Modelle der Keintaten (1985 folgte eine zweite) griffen bekannte Melodien auf wie O du lieber Augustin und O du mein Österreich („Der Himmel für uns Wiener...“) oder Wien, Wien nur du allein („Falls Sie ein Fremder sind...“). Weithin aber wurde nur der charakteristische Tonfall der touristifizierten Volksmusik eingefangen und seine Elemente beziehungsreich verwoben. Die Besetzung – 2 Klarinetten, 2 Hörner, Streichquintett, Knopfharmonika und Schlagzeug – spielt auf die „Heurigenpartien“ an. „Daß im letzten Abschnitt die Elemente immer mehr verfremdet werden, Auflösungserscheinungen überhandnehmen und Delirium, Fatalismus und Tod dominieren,“ so der Komponist, mache diese Kantate zum „Dokument einer wesentlichen Schicht der Wiener Mentalität“. Wobei er sich gerade auch zu der in ihren dominanten Formen kritische Distanz wahrte: „Ich bin – was bekannt sein dürfte – in besonderem Maß kein Freund einer geistigen Haltung, die ‚Austria first‘ sieht; ich finde im Gegenteil, dass auf vielen Ebenen noch immer viel zu viel nur in der heimatlichen Suppe gerührt wird!“ (Brief v. 20.11.2016)
Eine Art Chansons entstand wiederum als „Nebenwerk“ des leichteren Genres (uraufgeführt Donau‑Festival 1988). Die Texte des insgesamt 60 Miniaturen umfassenden Zyklus stammen vorwiegend aus dem Umkreis der Wiener Gruppe sprachartifizieller Literaten: Sprach‑ und Formspiele, Alltags‑Satiren, Populär‑Groteskes und Politisch‑Zeitkritisches. „Insgesamt hat es mich gereizt, an Stelle der gepflegten Aura des Lieds die Direktheit des Chansons anzupeilen, die sakrifizierten Bereiche der ‚Großkunst’ einmal hinter mir zu lassen, mich auf dem gefährlichen Terrain der Kleinkunst zu bewegen und bei Wahrung des musikalischen Qualitätsanspruchs – teilweise spielerisch – Verhaltensmuster und Reaktionsweisen zu überspitzen, ins Absurde zu überdrehen.“ Spezifisch Wiener Musik auch das noch einmal. „Vielleicht“ – wie der kritische Schubart einst argwöhnte – mit „etwas zu viel komischem Salz“. Jedenfalls aber noch einmal ausgeführt in „Gründlichkeit ohne Pedanterey“, mit „Anmuth im Ganzen, noch mehr in einzelnen Theilen.“
Am 14. Februar ist Cerha, im Alter von 96 Jahren in Wien gestorben.