München - Der dänische Komponist Per Nørgård wird heute (19.00 Uhr) mit dem Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet. Er bekommt den Preis für ein Leben im Dienste der Musik. Nørgård sei einer der originellsten Komponisten des Nordens, dessen Werk doch weit über die skandinavischen Grenzen hinaus von einzigartiger Bedeutung sei, urteilte das Stiftungskuratorium. Das Lebenswerk des 1932 geborenen Dänen erstrecke sich über nahezu alle musikalischen Gattungen. Die Verleihung findet im Prinzregententheater statt; der Preis ist mit 250 000 Euro dotiert.
Lesen Sie dazu einen Beitrag aus der nmz 2/2016 von Christoph Schlüren:
Rosengarten und Hexensee
Per Nørgård erhält den Ernst von Siemens Musikpreis
(nmz) - Als Per Nørgård 2014 mit dem mit 200.000 US-Dollar dotierten Kravis Prize der New Yorker Philharmoniker ausgezeichnet wurde, war die Überraschung groß und Allan Kozinn drückte in der New York Times seine Verwunderung darüber aus, dass ein Komponist ausgewählt wurde, von dem das Orchester noch nie ein Werk gespielt hatte.
Es ist schon erstaunlich, wie die Neue-Musik-Welt in so separaten Lagern existieren kann, dass selbst die prominentesten Vertreter der anderen Seite kaum ein Begriff sind. Per Nørgård ist nicht nur Dänemarks unbestritten bedeutendster Komponist der Gegenwart, er ist einer der herausragenden Meister unserer Zeit, und nun wird er, dessen Musik hier auch viele Spezialisten nicht kennen, mit dem Ernst von Siemens Musikpreis, der höchstdotierten deutschen Auszeichnung auf dem Gebiet der Neuen Musik, geehrt. Das sollte den Programmmachern der Münchner musica viva, der Donaueschinger Musiktage und anderer einschlägiger Fes-tivals und Konzertreihen schon einigermaßen zu denken geben, bleiben dort substanzielle Segmente zeitgenössischen Schaffens doch häufig ausgeblendet.
Nørgård ist für die Dänen heute, was vor einem Jahrhundert Carl Nielsen für sie war: der überragende Symphoniker, der auch auf den Gebieten der Kammer- und Chormusik sowie des Musiktheaters stets Werke schafft, die mit Spannung erwartet werden. Geboren 1932, stand er als junger Mann zunächst ganz im Bann von Jean Sibelius, dessen unkonventionell revolutionierende Kraft er intuitiv erkannte. Er hatte das Glück, bei Vagn Holmboe zu studieren, dem bedeutendsten Meister der klassischen Moderne in Dänemark, dessen nach organischen Metamorphose-Prinzipien gebaute Symphonien und Streichquartette weltweit von Kennern geschätzt werden, jedoch dem breiten Publikum bis heute unbekannt sind. Nørgårds frühe Werke zeigen frappierend reife Meis-terschaft in der freitonalen Nachfolge von Sibelius, Bartók und Holmboe, Werke wie die Erste Symphonie oder die „Constellationer“ für Streicher wirken heute so frisch und aktuell wie Mitte der fünfziger Jahre. Dann lernte er in Paris die internationale Avantgarde kennen und war enttäuscht; die Vorherrschaft der seriellen Methodik stieß ihn, der durch die Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur eine unkorrumpierbare Freiheitsliebe entwickelt hatte, ab. Freilich experimentierte auch er kurzfristig mit strikten Serien wie auch mit Elementen der Fluxus-Bewegung, und eine starke Zuneigung zu psychedelischen Klängen, wie sie in der Woodstock-Generation die ganze Welt ergriffen hatte, begleitet ihn noch heute.
Ende der sechziger Jahre entdeckte Nørgård seine eigenen Strukturprinzipien, die auf drei Säulen basieren: die Harmonik ist an den naturgegebenen Gesetzmäßigkeiten der Obertonreihe ausgerichtet; die Melodik folgt den sich quasi von selbst generierenden Impulsen der sogenannten „Unendlichkeitsreihe“; und die Rhythmik hat die Proportionen des Goldenen Schnitts als Ausgangspunkt. So entstand zusehends ein hermetischer Kosmos, dessen Vervollkommnung von der 2. Symphonie und der Oper „Gilgamesh“ zur Mitte der siebziger Jahre vollendeten 3. Symphonie anschaulich mitzuvollziehen ist.
Diese hermetische Vollendung mündete in eine Krise, und Nørgård fand einen neuen Inspirationsquell im Schaffen des schizophrenen Schweizer Künstlers Adolf Wölfli. Er öffnete die Schleusen des Chaos, das in Kollision mit seinen strukturellen Entdeckungen geriet und für ihn selbst unerwartete Ergebnisse zeitigte. Eine neue Bedrohlichkeit bahnte sich Raum, die in Werken wie der 4. Symphonie „Indischer Roosen-Gaarten und chineesischer Hexensee“, der Oper „Das göttliche Tivoli“ und der 5. Symphonie mit ihren gigantischen Verwerfungen zur Aussprache kommt. Seither ist Nørgårds Musik auch zusehends filigraner zerfasernd geworden. Die Anmutung ist das alltägliche Raum-Zeit-Empfinden überschreitend, als kreierte sich die Musik von selbst und der Komponist sei ein hellwacher Beobachter, der die empfangenen Signale in eine angemessene Schriftform bringt. Nørgårds Schaffen ist von einer weitreichenden stilistischen und expressiven Breite, wobei das Schwebende, Unvorhersehbare, Ungreifbare ein durchgehendes Charakteristikum seiner Entwicklung in den letzten Jahrzehnten ist. Die Hauptwerke, zu denen im neuen Jahrhundert die Symphonien Nr. 7 und 8 hinzutraten, sind umgeben von Vasallenwerken, in denen die neuen Ansätze ihre Potenziale offenbaren, bevor sie zu größer dimensionierten Formen wachsen. Besondere Beachtung verdienen insbesondere Nørgårds Kompositionen für Chor a cappella, die sich im Repertoire jedes Chors befinden sollten, der an den neuesten Entwicklungen sowohl musikalisch folgerichtiger als auch klanglich unerhörter Welten interessiert ist. Nørgårds Kammermusik überrascht stets aufs Neue mit ihrer Bandbreite eines ins Offene gehenden Ausdrucksbedürfnisses, und seine Orchesterwerke sind in ihrer leuchtenden Transparenz und den bezugsreichen Mikrostrukturen von unerschöpflichem Reiz. Er selbst bekennt, dass er seit seiner Jugend eine besondere Faszination für Schwingungen und Interferenzen hat, und davon ausgehend hat er mit unermüdlichem Forschergeist immer neue Räume erkundet.
Mit Per Nørgård wird nicht nur erstmals ein Komponist aus den nordischen Ländern mit dem Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet. Sein Kennzeichen ist Offenheit. Er ist ein zeitloser Wanderer, für den es vom Banalen bis zum Hochkomplexen keine Begrenzung gibt, durch die er sich schützen würde. Seine Welt ist Rosengarten und Hexensee zugleich.