Diese Interpretationen machen süchtig: Es ist 19 Jahren her, da spielte Jean Guillou an seinem Instrument in der Pariser Kirche Saint Eustache das gesamte Bach‘sche Orgelwerk ein – zehn Konzerte in wenigen Wochen, zu denen das ganze Viertel kam. Man presste die eher dürftig abgenommene Musik ohne nachträgliche Schnitte und tonmeisterliche Politur auf zwölf CDs – der tosende Applaus nach jedem Werk ist mit drauf, knackende Kirchraum-Geräusche und kleinste Unsauberkeiten, die der damals 70-jährige Guillou seinen Fingern und Füßen nicht mehr verbot. Es sind die wahrscheinlich virtuosesten Bach-Einspielungen auf einer Orgel, die es gibt: sensationell musikalisch und extrem libertär.
Wie fast alles, was Jean Guillou in seinem Leben machte, blieben auch diese Aufnahmen in der Szene stets umstritten: Er registriert darin die barocke Vorlage vielfältig orchestral statt historisch „korrekt“, er verschiebt, dehnt und streckt die Tempi und artikuliert dabei so facettenreich wie kaum ein anderer Organist. Stücke wie die kopfverknotende Fuge D-Dur BWV532 bekommen durch Rubato und gezielte Anschlagsmuster einen unglaublichen Drive, als wäre da ein improvisierender Jazzmusiker am Werk. Und tatsächlich war Guillous künstlerische Maxime diesem Ansatz nie fern. Sie bestand immer, wie sein Biograf Jörg Abbing schreibt, in der „Flexibilität der Interpretation in all ihren Parametern“ – und das ohne auch nur eine einzige Note zu ändern.
Am 26. Januar ist Jean Guillou im Alter von 88 Jahren verstorben. Die Orgelwelt verliert mit ihm den letzten Grand Monsieur seiner Generation, ihren wohl mutigsten Improvisator – und nicht zuletzt trifft sein Tod auch die Szene der zeitgenössischen Musik. Guillou war ein enfant terrible, einer, der ohne revolutionär sein zu wollen zu einer revolutionären Figur der Musikwelt geworden war. Sein Leben lang setzte er sich dafür ein, die Orgel aus dem kirchlichen Kontext zu befreien. Er arrangierte weltliche Musik für Orgel, komponierte selbst ein 87 Opus umfassendes Werk und baute fünf eigene Instrumente – darunter das atemlos diskutierte in der Tonhalle Zürich und eines zusammen mit der Firma Klais in der Kathedrale Santa Maria in Léon in Spanien: fünf Manuale, 64 Register, 19 Koppeln. Seiner eigenen Aussage nach ist es das schönste Instrument, auf dem er selbst je gespielt habe. Als Organist konzertierte er auf der ganzen Welt, lebte lange Zeit neben Paris in Lissabon und Berlin und gab in Zürich bei den Internationalen Meisterkursen für Musik zehntägige Improvisationsseminare. Sein Buch „Die Orgel. Erinnerung und Vision“ von 1984 gehört längst zur Standardliteratur.
Ihn konzertieren zu sehen wurde mit den Jahren immer rarer, immer besonderer. Noch im April feierte er seinen 88. Geburtstag mit einem Abend in der Elbphilharmonie, wo er unter anderem seine Komposition „Revolte des orgues“ für neun im Raum verteilte Orgeln und Schlagwerk aufführte. Zuletzt spielte er in Deutschland im Oktober beim Abschlussabend des Münchner Orgelherbstes.
Konzeptinstrument Orgel
Zwischen diesen beiden Konzerten, an einem Nachmittag im Juli, hatte er sich Zeit genommen für ein Gespräch, begrüßte den Besuch in seinem geräumigen Pariser Appartement. Zwischen Regalen und Vitrinen voller Bücher und Noten, in der Wärme schwerer Teppiche und massiver Eichenholzmöbel, setzte er sich an einen Tisch und begann zu erzählen. Er war ein leiser Mensch an diesem Tag, der zwischendurch hell und ein bisschen heiser lachte, wenn er sich an etwas Kurioses zurück erinnerte. Seine Erscheinung hatte durchaus etwas Ikonisches: ganz in Schwarz gekleidet, das schlohweiße Haar zur typischen mephistophelischen Mähne zurückgekämmt. Mit dem Alter war er genügsam geworden. Beurteilend auf sein Schaffen zurückblicken mochte er nicht, das lag ihm fern. Er sprach lieber über Zeitloses, seine musikalischen Ideale, das, was er sich noch wünschte. Die Orgel der Zukunft? „Von der Kirche befreit“, sagte er. „Ein Konzeptinstrument mit variabler Struktur“, das aus mehreren frei im Raum beweglichen Orgeln bestehen sollte. Und wo er am liebsten einmal spielen würde? „In einem Wald.“
Der junge Guillou begann als Autodidakt in einer Kirche in seinem Heimatort Angers, wo er dem Dorfschmied, der einen Schlüssel zu einer Kirche hatte, regelmäßig vorspielte. Jahrelang hatte er keinen Lehrer, bevor er später im Studium bei Marcel Dupré, Olivier Messiaen und Maurice Duruflé lernen und vor allem auch mit ihnen streiten sollte. „Messiaens Klangsprache ist mir immer zu französisch gewesen“, sagte Guillou im Juli: zu strukturiert, zu stark beeinflusst beispielsweise von Claude Debussy. Zu imitieren, in welcher Form auch immer, hatte Guillou stets versucht zu vermeiden. Er verstand auch deshalb nicht, wie man im Sinne einer „historischen Aufführungspraxis“ spielen könne, mit aus seiner Sicht starren Regeln und Vorschriften, was alles zu tun und zu unterlassen sei.
Den Komponisten spüren
Alles „Dekorative“, „die Finger zu bewegen, um die Finger zu bewegen“, hielt er für überflüssig: Das wichtigste war ihm dagegen immer, den Komponisten „zu spüren“, nicht mehr, nicht weniger. Guillou tat das, indem er seine Interpretation wie ein Glas so schliff, dass die Musik ganz bar durch sie hindurch treten konnte.
Ob es für eine freie Interpretation jedoch besser sei, keinen Lehrer zu haben, das mochte er nicht sagen. Er selbst jedenfalls – das kann man vermuten – hätte sich mit regelmäßigem Unterricht seit dem Kindesalter möglicherweise nicht zu dem innovativen Musiker entwickelt, der er war. Seinen eigenen Schülern brachte er vor allem eines bei: Erst dann mit der Analyse und Registrierung zu beginnen, wenn sie für sich geklärt haben, was das zu spielende Stück oder ihre Improvisation für sie bedeutet. „Ich habe als Lehrer nie etwas forciert“, sagte Guillou. „Es geht schließlich darum, in der Interpretation wahrhaftig zu sein.“ Und das gehe nur, wenn der Musiker in erster Linie als Mensch wirke.
Guillou war wahrhaftig in seinem Spiel. Experimentell, verspielt, voller Wille. Beim Konzert in der Elbphilharmonie verließen im April zwar manche Zuhörer verstört den Raum – was der Maestro da spielte, war ihnen möglicherweise doch zu abgefahren. Diejenigen aber, die blieben, erzeugten einen Applaus, der klang, als käme er von mindestens doppelt so vielen. Guillou spielen zu hören war nicht nur eine Besonderheit. Es hatte etwas Magisches. Sowohl auf CD. Vor allem aber live.