Die ersten 100 Tage im neuen Amt sind längst passé, seitdem gab es eine Namensänderung, diverse Bildwechsel, doch weder Aufschrei noch Skandal. Dieter Jaenicke hat Udo Zimmermann zu Jahresbeginn als Chef im Festspielhaus Hellerau abgelöst. Weht nun ein neuer Wind vor den Toren von Dresden?
Im Gespräch mit Michael Ernst gibt der zuletzt am World Culture Forum in Brasilien tätige Theatermann Auskunft über den Stand seiner Reformbewegungen. – Reform? Ja gewiss, vor genau 100 Jahren ist die Siedlung im Norden von Dresden als erste deutsche Gartenstadt vom Möbelfabrikanten Karl Schmidt-Hellerau gegründet worden. Die so genannte Lebensreformbewegung war das Gründungsprinzip des einstigen Vororts, der 1950 zu Dresden eingemeindet worden ist.
Bekannt wurden vor allem die Produkte aus den Werkstätten Hellerau. Dass im von Heinrich Tessenow errichteten Festspielhaus damals Größen wie Emile Jaques-Dalcroze und Adolphe Appia, Gret Palucca und Mary Wigman, Franz Kafka und Stefan Zweig, Tanzlegende Djagilew und unzählige weitere ein und aus gegangen sind, wissen heute nur mehr wenige. Immerhin ist das seit Jahren im Umbau befindliche Areal, das vor und nach 1945 militärisch missbraucht worden war, nicht zuletzt dank der Forsythe Company wieder verstärkt im Gespräch.
nmz-Online: Dieter Jaenicke, seit 1. Januar sind Sie künstlerischer Leiter des Europäischen Zentrums. Sind Sie inzwischen angekommen – und, wenn ja, mehr in Dresden oder eher in Hellerau?
Dieter Jaenicke: Angekommen bin ich längst, und natürlich in Dresden, das war ich aber auch schon vorher aufgrund von Einarbeitung und Vorbereitung. Inzwischen habe ich eine Wohnung in der Stadt, das ist nun nochmal was anderes. Jetzt gehört man dazu und realisiert das neue Arbeitsumfeld tatsächlich, spürt viel genauer, was man versteht und was man noch nicht versteht.
Ich bin in meinem Berufsleben ja viel unterwegs gewesen und habe immer wieder festgestellt, dass jede Stadt anders ist. Aber Dresden ist sehr anders als andere deutsche Großstädte, hier wird es einem ziemlich leicht gemacht, sich wohlzufühlen. Das ist überhaupt kein Vergleich zu Rio, New York oder Hamburg, wo ich zuvor gewesen bin.
Von der Arbeit her ist das meiste aufgegangen, was ich mir für die Anfangszeit vornehmen konnte. Sicher ist, das Kunst in Dresden vor allem als traditionelle Kunst wahrgenommen wird, wodurch es für zeitgenössische Kunst hier schwieriger ist als in vergleichbaren Städten wie Hamburg, Berlin, Köln oder Düsseldorf.
Wir werden daher in den nächsten zwei Jahren großen Wert auf ein sehr genaues Programm zur Publikumsentwicklung legen. Das ist nicht nur Marketing, sondern bedeutet auch Netzwerke in Schulen, Hochschulen et cetera, damit Hellerau auch in der gesamten Stadt ankommt. Doch schon jetzt ist deutlich geworden, dass sich hier was verändert, dass wir intensiv daran arbeiten, Hellerau mit der Stadt zu verbinden. Nach knapp einem halben Jahr kann ich feststellen, dass unser bisheriges Programm gut funktioniert, dass wir in den Medien präsent sind, dass mit Interesse und Sympathie auf uns geschaut wird.
nmz-Online: Welche Situation haben Sie bei Ihrer Ankunft vorgefunden, was konnte übernommen werden und was musste geändert werden?
Jaenicke: Im Vergleich dazu, was vorher hier gegolten hat, habe ich gewiss ein anderes Verständnis davon, was ein moderner Veranstaltungsbetrieb ist. Deswegen habe ich ein neues Team zusammengestellt, das aus bisherigen und neuen Mitarbeitern besteht. Diese internen Veränderungen sind die Grundlagen für einen neuen Betrieb, der auf andere Prämissen und Prioritäten setzt. Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, ein Programm so zu bauen, wie ich es hier vorhabe. Und Programm bedeutet für mich nicht nur, welche Künstler eingeladen werden, sondern darüber hinaus, wie mit ihnen insgesamt umgegangen wird.
Gleichzeitig ging es aber auch um das Budget, für das wir bereits 450.000 Euro mehr an Drittmitteln akquirieren konnten. Eine halbe Million mehr als bisher gibt es von der Stadt, verbunden allerdings mit der Aufgabe, das Haus nun ganzjährig zu bespielen. Das ist etwas anderes als ausgewählte Forsythe-Programme und punktuell Tage der zeitgenössischen Musik.
Ich kann sagen, wir hatten einen sehr guten Start auch mit wichtigen internen Auswirkungen, wodurch die Motivation deutlich gestärkt worden ist. Beste Voraussetzungen also, in Zukunft mehr eigene Produktionen und auch wieder Uraufführungen zu realisieren. Denn an diesem besonderen Ort sind Modernität und eine zeitgenössische Ausrichtung wichtige Signale. Wenn hier also Geschichte aufgenommen wird, dann nicht museal, sondern immer mit der Frage, was sie für das Heute bedeutet.
nmz-Online: Welche Einflüsse werden in Hellerau durch Ihre bisherigen, sehr internationalen Tätigkeiten wirksam werden?
Jaenicke: Da ich ja seit 25 Jahren in diesem Bereich bin, konnte ich auf eigene Erfahrungen und Kontakte mit vielen Künstlern zurückgreifen, mit denen mich seit langem eine Zusammenarbeit verbindet. Mir ist wichtig, diese internationalen Netzwerke für Hellerau nicht ausschließlich im Bereich der Musik zu nutzen, sondern für die Künste insgesamt. So soll schon in diesem Sommer auch bildende Kunst zu sehen sein.
Mit Musik, Tanz und Theater sind wir sehr gut aufgestellt, diese Vernetzung ist ein ganz wichtiger Fundus.
nmz-Online: Sie gaben dem Unternehmen einen partiell neuen Namen: Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste Dresden. Warum so sperrig?
Jaenicke: Entscheidend ist natürlich Hellerau, auch für den Auftritt im Internet. Der Name ist ein bekannter Begriff, deswegen findet man uns unter www.hellerau.org. Doch im Sinne der Stadt, wo ich arbeite und die uns bezahlt, sollte der Name Dresden unbedingt mit in den Titel.
nmz-Online: Hat das auch damit zu tun, dass Sie in Zukunft enger mit den Dresdner Kulturinstitutionen zusammengehen wollen?
Jaenicke: Selbstverständlich habe ich versucht, mir hier ein Netzwerk zu schaffen und die Zusammenarbeit mit den Institutionen vor Ort auszubauen. Allerdings setze ich da nicht nur auf Kulturinstitutionen, sondern beispielsweise auch auf die Soziokultur, auf kulturelle Bildung insgesamt. Und wir suchen ganz bewusst auch die Verbindungen in die Region, zum Tanzarchiv Leipzig etwa, nach Chemnitz und Görlitz. Unser Anspruch ist ja, das zeitgenössische Zentrum im Osten Deutschlands zu sein, also muss es da auch Brücken in die Nachbarländer geben, nach Prag und Wroclaw zum Beispiel.
nmz-Online: Und wie gehen Sie vor Ort mit diesem Anspruch um, wollen Sie in die Stadt Dresden hinein oder aus ihr heraus leuchten und wirken?
Jaenicke: Ich würde mir wünschen, dass beides erfüllt wird. Wir arbeiten jedenfalls daran. Ein Ziel ist, sehr viel mehr junges Publikum von den Hochschulen anzulocken, denn was hier geschieht, ist doch extrem interessant für Kunststudenten, für Palucca-Schüler. Gemeinsam mit dem neuen Schauspielintendanten wird es darum gehen, mehr Leute zu animieren, ihre Seh- und Weggehgewohnheiten zu verändern, ihnen zu zeigen, dass zeitgenössische Kunst nicht nur schwer intellektuell ist, sondern auch Spaß machen kann.
Wir sehen uns angesichts von einer halben Million Einwohnern nicht als Konkurrenz, denn bestimmt Formen von Tanz gibt es sowieso nur hier in Hellerau. Da soll auch nicht mit großen Namen gelockt werden. Die Menschen müssen wegen uns kommen, weil sie wissen, was hier geschieht, das ist interessant! Diese Art Neugier muss wieder wachsen, dann wächst es auch ein größeres und gemischteres Stammpublikum.
nmz-Online: Aber was, wenn Dresden mit einem kulturellen Überangebot konfrontiert wird?
Jaenicke: Ein Überangebot sehe ich nicht. Schon gar nicht im Zeitgenössischen. Höchstens unter sozialem Aspekt, da können 19 Euro für eine Karte schon mal zu viel sein. Also müssen wir die Preise künftig flexibler ansetzen. Äußerst wichtig scheint mir allerdings auch die kulturelle Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Wir beteiligen uns an dem, was kulturelle Bildung genannt wird, jedes Entgleiten in einen Kunstturm dürfte damit wohl ausgeschlossen sein.
Und sowieso kann ich nur Anreize schaffen und neugierig machen, indem ich mit Qualität überzeuge. Die entscheidende Energie dafür kommt aus der Kreativität, die Hellerau zu einem Ort macht, an dem Kunst entsteht, gemacht und gezeigt wird. Ein Begriff wie Laboratorium der Moderne klingt zwar recht gewaltig, ist aber eine schöne und treffende Bezeichnung für unser Zentrum.
nmz-Online: An zahlreichen Stellen ist dieses Zentrum jetzt freilich noch Baustelle, wie soll es damit denn weitergehen?
Jaenicke: Jetzt im Juli ist das Festspielhaus innen fertig, damit sind der große Festspielsaal und zwei Oberlichtsäle komplett nutzbar. Bis auch außen alles komplett ist, werden wohl noch zwei Jahre vergehen. Dass im Jahr 2013 dann der Ostflügel mit Künstlerwohnungen, Kinderspielplatz und einem musikalischen Kindergarten fertig sein wird, formuliere ich jetzt mal als Wunsch. Aber dann könnte Hellerau 2014 tatsächlich das wichtigste Zentrum zeitgenössischer Kunst sein, als bekennender und ernsthafter Partner in allen Netzwerken von Kunst und Kultur ein begehrter Ort für Künstler sowie auch für Tagungen und Kongresse fungieren. Eine feste Größe in der Dresdner Kulturlandschaft sind wir dann allemal.