„Große Gier nach Wagner“: Christian Thielemann über Schubladen und eine Herzensangelegenheit. Ein Porträt des deutschen Dirigenten, der am 1. April seinen 60. Geburtstag begeht, von Michael Ernst.
Christian Thielemann wird immer wieder auf Richard Wagner festgelegt. Kein Wunder, er hat dessen musikalisches Werk interpretatorisch durchdrungen wie derzeit kaum ein anderer Dirigent. Und dennoch stimmt diese Zuschreibung nicht ganz: „Ich habe mit einem bestimmten Fach meine Karriere gemacht“, räumt er ein und begründet: „Das liegt auch daran, als ich Mitte zwanzig war, dass die Gier nach Wagner so groß war. Unüblich damals für mein Alter, weil es ja noch die älteren Kollegen von Stein und Solti und Karajan gab. Man wird gerne in Schubladen getan, das stimmt aber immer nur teilweise. Ich habe mit Operette angefangen und alles dirigiert von der ‚Lustigen Witwe‘, dem ‚Vogelhändler‘ bis hin zum ‚Land des Lächelns‘ und ‚Gräfin Mariza‘.“
Als einstiger Assistent Herbert von Karajans begann Christian Thielemann seine Laufbahn als Korrepetitor an der Deutschen Oper Berlin, ging wenig später nach Gelsenkirchen, Karlsruhe und Hannover, war ab 1985 Erster Kapellmeister in Düsseldorf und wurde 1988 in Nürnberg zum damals jüngsten Generalmusikdirektor Deutschlands ernannt. Und tat eine neue Schublade auf, indem er seinen Einstand ausgerechnet mit Hans Pfitzners „Palestrina“ gab. Was aber keineswegs eine Provokation gewesen sei, wie der Dirigent rückblickend abwehrt: „Eine Provokation haben andere Leute daraus gemacht. Ich hab’ den Pfitzner aufgeführt, weil ich die Musik so toll fand.“
Auch in späteren Jahren, da war er GMD an der Deutschen Oper Berlin (1997-2004) sowie bei den Münchner Philharmonikern (2004-2011), spricht sich Christian Thielemann immer mal wieder dafür aus, dass eine Tonart nicht politisch sein könne. Bei Wagner interessiere ihn ja auch die Musik, nicht der Mensch, begründet er diese Haltung: „Ich habe mich manchmal gefragt, wen will ich gerne kennenlernen? Den Mendelssohn vielleicht, der ist immer so freundlich, den Liszt, aber am liebsten doch Richard Strauss. In Dresden hat man ja immer das Gefühl, der kommt gleich zur Tür rein. Weil das Haus so verquickt ist mit ihm, das ist Meißner Porzellan, mit einem Schuss Wien drin. Mir ist Richard Strauss unglaublich sympathisch.“
„Ohne Beethoven kann man gar nicht!“
Neben Strauss und Wagner gibt es noch einen weiteren Heroen, auf den Thielemann nichts kommen lässt, den großen Jubilar des nächsten Jahres: „Ohne Beethoven ist man ja verraten und verkauft. Das hat mich unglaublich fasziniert, diese Bruchstückhaftigkeit und die Modernität, eben das Zukunftsweisende bei Beethoven. Und ohne Beethoven kann man gar nicht. Ich glaube, es hat keinen Komponisten gegeben, der nicht irgendwann bei Beethoven gelandet ist.“ In der nächsten Spielzeit startet Christian Thielemann mit der Sächsischen Staatskapelle, deren Chefdirigent er seit 2012 ist, einen neuen Beethoven-Zyklus.
Bereits jetzt zum runden Geburtstag hat sich der Dirigent über eine Geburtstagsgabe der Deutschen Grammophon freuen dürfen, die auf sage und schreibe 21 CDs einen Querschnitt seines künstlerischen Schaffens zwischen Orchestergraben und Konzertpodium abbildet – und den Dirigenten als durchaus vielseitig präsentiert. Dass der Reigen ausgerechnet mit Pfitzner eröffnet wird, scheint nach dem zuvor Gesagten geradezu folgerichtig, weiter geht es dann aber mit Mozart und Mendelssohn über Schumann (Robert und Clara!) zu Strauss, reicht über die drei großen B (Beethoven, Bruckner und Brahms) bis hin zu Heinrich Marschner, Otto Nicolai, Carl Orff, Arnold Schoenberg sowie Carl Maria von Weber. Also ein wirklicher Querschnitt, bei dem selbstredend auch Richard Wagner nicht fehlen darf.
Und auch dessen Antipode Giuseppe Verdi wurde soeben mit einer Doppel-CD des Labels „Profil“ in der Edition Günter Hänssler von Thielemann und der Dresdner Staatskapelle gewürdigt, ein exzellenter Live-Mitschnitt des Requiems aus der Semperoper. In der kommenden Saison wird dort ein neuer „Don Carlo“ herauskommen, ebenfalls unter Thielemanns Leitung.
„Ja, das ist was Besonderes, sie sind ja beide 1813 geboren, der Wagner und der Verdi, irgendwie passen sie blendend zusammen. Ob sie so Antipoden sind, weiß ich gar nicht. Der Verdi hat sich von seiner Jugend bis zu seinem Spätwerk mehr verändert als der Wagner. Das ist ihnen beiden eigen, dass sie sich sehr entwickelt haben und dass der eine vom andern auch was gehabt hat. Und für mich ist es schön, beide mal in einem Jahr zu machen.“ Verdis „Don Carlo“ wird zu den Osterfestspielen 2020 in Salzburg herauskommen und bereits im Mai von Dresden übernommen.
Im Januar 2020 haben „Die Meistersinger von Nürnberg“ ihre Dresdner Premiere in der Produktion der diesjährigen Osterfestspiele, die Thielemann aktuell in Salzburg vorbereitet. Für den Dirigenten eine Herzensangelegenheit: „Das ist eigentlich mein Lieblingsstück von Wagner, weil es irgendwie alle Farben hat. Es hat das Tristaneske, aber nicht mehr so hysterisch, es hat die Gelassenheit, es ist ein Stück der Entschleunigung, es ist eine Komödie und hinterlässt einen Haufen guter Laune. Außerdem stirbt mal keiner, das ist ja auch ganz nett. Es ist aber sehr, sehr schwer zu dirigieren.“
Der Musikdirektor der Bayreuther Festspiele (seit 2015) und Künstlerische Leiter der Osterfestspiele Salzburg (seit 2013) dürfte hier freilich mit der Sächsischen Staatskapelle alle seine Wagner-Bezüge – er selbst spricht auch mal von „Wagnerei“ – in idealer Weise miteinander verbinden. Im Vorfeld seines Geburtstags ließ er sich allerdings auch mal auf eine Rückschau ein und konstatierte, „Ich hab mich menschlich und musikalisch nie so wohlgefühlt wie jetzt. Musikalisch bin ich immer lockerer geworden, aber nicht verantwortungslos. Ich sehe die Sachen jetzt runder, weil ich mehr gemacht habe. All das summiert sich natürlich, da sagt man sich, aha, jetzt ist eine bestimmte Zahl erreicht, doch das ist nur eine Zahl. Wichtiger ist die Erfahrung, die man gemacht hat. Und die man auch, wenn ich ehrlich bin, nicht unbedingt nochmal machen will. Ich will gar nicht so dirigieren, wie ich vor zwanzig Jahren dirigiert habe.“ Was er damit meint, ist eine reduziertere Gestik in seinem dirigentischen Hand-Werk, „wie bekomme ich mit weniger Bewegung mehr raus als früher, also reduziert natürlich nicht im Ausdruck.“
Für einen Dirigenten sind sechzig Jahre kein Alter, schon gar nicht für Christian Thielemann, der auch sein siebentes Jahr in Dresden gerne noch als Flitterwochen-Modus bezeichnet. Doch angesichts von mehr als vierzig Jahren, die der am 1. April 1959 in Berlin geborene Musiker nun schon im Berufsleben steht, ist dieser Geburtstag auch Anlass für einen persönlichen Rückblick gewesen: „Also wenn ich mich erinnere, wie ich zwanzig wurde, fand ich das ganz toll. Dreißig war ein Schock komischerweise, bislang war’s das einzige Mal mit ‘ner Null, wo ich wirklich deprimiert war. Vierzig fand ich ganz toll, fünfzig war famos. Was einem diese Zahlen bringen, ist ja auch das Mehr an Erfahrung. Man wird immer noch viele Fehler machen, aber manche eben nicht mehr. Ich hab‘ mich schwer verändert in den letzten Jahren. Einfach, weil an Sicherheit und an Erfahrung so viel hinzugekommen ist.“
- Jubiläumsedition Deutsche Grammophon: 21 CDs mit Werken aus vier Jahrhunderten, Christian Thielemann dirigiert das Orchester der Deutschen Oper Berlin, die Londoner Philharmoniker, das Philadelphia Orchestra, die Wiener sowie die Münchner Philharmoniker und die Sächsische Staatskapelle Dresden. (DG 00289 483 6423)
- Giuseppe Verdi „Messa da Requiem“: Thielemann / Sächsische Staatskapelle (PH 16075)
- Mitte April erscheint der Bildband „Christian Thielemann - Dirigieren / Conducting“ mit Fotografien von Lois Lammerhuber. (Edition Lammerhuber)