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Mit Yvonne Loriod starb eine Sachwalterin unsterblicher Musik

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Nachrufe neigen allzuoft zu Superlativen. Der Tod von Yvonne Loriod provoziert sie geradezu. Das interpretatorische Spektrum dieser Pianistin verfügte schon frühzeitig über eine enorme Bandbreite; ihre Gedächtnisleistungen müssen genial gewesen sein, so rasch hat sie neue Werke erfasst. Und doch galt sie vielen Menschen vor allem als „die Frau an seiner Seite“ – die Witwe des Komponisten Olivier Messiaen.

Als Sachwalterin des reichen Œuvres von Olivier Messiaen (1908 – 1992) wird sie in die Annalen eingehen, dabei war Yvonne Loriod weit mehr als nur die verdienstvolle Frau an der Seite jener Lichtgestalt. Am 17. Mai verstarb sie in einer kirchlichen Pflegeeinrichtung in Saint Denis bei Paris mit 86 Jahren nach langer Krankheit. Mit ihr ist aber auch eine Künstlerin gegangen, deren eigenständige Schaffen sehr im Schatten steht, weil ihr Wirken fast ausschließlich im Zusammenhang mit dem ihres einstigen Lehrmeisters und Lebenspartners gesehen wird. Dennoch werden auch zahlreiche originäre Aufnahmen von Madame Loriod-Messiaen bleiben, wenngleich so manche Rarität derzeit kaum verfügbar zu sein scheint.

Yvonne Loriod, 1924 in Houilles, einem Vorort der französischen Hauptstadt geboren, begann als Sechsjährige, also nicht sonderlich früh, mit dem Klavierspiel. Doch schon mit Vierzehn soll ihr Repertoire einen Umfang gehabt haben, der manch anderen Pianisten beinahe als Lebenswerk gilt, darunter sämtliche Mozart-Konzerte, alle Beethoven-Sonaten, Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ und das gesamte Opus von Frédéric Chopin. Doch das klassische und romantische Konzertprogramm – unter Pierre Boulez führte sie einmal sämtliche Mozart-Konzerte in einer einzigen Woche auf – genügte ihr nicht, sie brannte für Neue Musik und fand neben Boulez auch in Bruno Maderna und Olivier Messiaen wichtige Förderer. Der spätere Ehemann war bereits am Pariser Konservatorium Loriods Lehrer, ebenso Darius Milhaud; bereits im Alter von 25 Jahren hatte sie dort selbst eine Professur inne und ihre Lehrtätigkeit noch bis 1989 wahrgenommen.

Beizeiten hatte die außergewöhnliche Interpretin, die als Erste und nach kürzester Probenzeit etwa Béla Bartóks Klavierkonzerte in Frankreich aufführte, auch kompositorisch gewirkt und beispielsweise Werke für die mit ihrem Namen eng verbundenen Ondes Martenot geschrieben. Dieses frühe elektronische Wellen-Instrument bediente sie später selbst in höchster Perfektion. An dessen Tasten hatte sie vielfach in Messiaens gewaltiger „Turangalîla“-Sinfonie mitgewirkt, so bereits bei deren Uraufführung 1949 in Boston unter Leonard Bernstein. Das zehnsätzige Werk trat auch mit ihrer Hilfe einen weltweiten Siegeszug des Neuen, Ungewohnten an und hat bis heute nicht von seiner Strahlkraft eingebüßt. In seiner einzigen, 1983 in Paris uraufgeführten Oper „Saint François d'Assise“ hat Messiaen gleich drei dieser klangmächtigen Instrumente eingesetzt; in einigen Aufführungen, so 1998 bei der deutschen Erstaufführung an der Oper Leipzig, wirkte auch Yvonnes jüngere Schwester Jeanne Loriod (1928 – 2001) als Ondes-Interpretin mit.

Begegnungen mit dieser stets bescheiden gebliebenen Dame, die freilich in praktischen Aufführungsdingen sehr bestimmt sein konnte und so manche Produktion hat zu authentischen Ereignissen reifen lassen, bleiben jedem Beteiligten gewiss unvergesslich. Schon längst und völlig zu Recht galt Madame Loriot als anerkannte Sachwalterin des Messiaenschen Œuvres. In seinen Werken für Klavier war sie zumeist die wichtigste und oftmals erste Interpretin. Zum zunächst einmal geistigen und künstlerischen Weggefährten wurde er ihr in den frühen Studienjahren, erst 1961 heiratete sie den zwölf Jahre älteren Meister und wurde dessen zweite Ehefrau. Nun hat sie ihn um 18 Jahre überlebt und die ihr verbliebene Zeit genutzt, das Unsterbliche seiner Musik in aller Welt manifest zu machen. In besonderer Weise ist ihr dies im Schulterschluss mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden gelungen, die sich 2008 mit dem „Chung-Messiaen-Projekt“ (der aus Korea stammende Dirigent Myung-Whun Chung war Messiaen viele Jahre in enger Mitarbeit verbunden) zum 100. Geburtstag des Komponisten engagierte. Eine gemeinsame Patenschaft über den „Meeting Point Music Messiaen“ verband Loriod mit diesem Orchester bis zuletzt.

Dieses Projekt ist der Erinnerungsarbeit an Olivier Messianes Kriegsgefangenschaft im Lager Görlitz verschrieben (heute auf polnischem Gebiet bei Zgorzcelec gelegen, wo unter unsäglichen Bedingungen „Quatour pour la fin de temps“, das Quartett auf das Ende der Zeit, entstand), um ein Europäisches multimediales Begegnungszentrum auf dem einstigen Lagergelände zu schaffen. Mit einem handschriftlichen Brief erklärte sich Yvonne Loriod bereits 2005 zur Patin für dieses Projekt. Die Künstlerin und Pädagogin war gern Sachwalterin und hat wohl auch dieses selbstgewählte Amt mit Superlativen gefüllt.

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