Der am 20. Februar 1952 in Trondheim geborene Komponist Halvor Haug ist hierzulande kaum bekannt. Höchste Zeit, dies zu ändern, findet nmz-Trüffelsucher Christoph Schlüren und porträtiert einen – so seine Einschätzung – „der seriösesten Komponisten unserer Zeit.“
Tatsächlich kommt es vor, dass Komponisten, deren Werke zum größten Teil bei einem international gut vernetzten Verlag gedruckt und käuflich erhältlich sind, mit Musik, die für professionelle Musiker und Liebhaber gleichermaßen attraktiv und in jeder Hinsicht von höchstem Karat ist, weitgehend unbeachtet und weltweit unterrepräsentiert bleiben. Man spricht dann vorzugsweise von ‚Insider-Tipps‘, von ‚Musician’s Musicians‘, und dabei bleibt kaum ergründbar, welche Ursachen zusammenkommen, die die Missachtung und Vernachlässigung – oftmals einhergehend mit pauschalen Vorurteilen – begünstigen. Unter den in der Mitte des 20. Jahrhunderts fallen mir da nicht nur Anders Eliasson, Pehr Henrik Nordgren, Peter Lieberson, Chinary Ung, Lepo Sumera oder Yevhen Stankovich ein – die immerhin das Glück hatten, recht umfangreich auf Tonträgern dokumentiert zu werden.
Ganz besonders dramatisch sind die Fälle des Franzosen Jean-Louis Florentz und des Norwegers Halvor Haug. Beide sind herausragende Könner mit einem Übermaß an klanglicher Fantasie, die uns in unverkennbar eigenständiger Weise mit groß angelegten symphonischen Werken von bezwingendem Zusammenhang und durchweg lebendiger erzählerischer Dramaturgie fesseln. Dabei ist das Œuvre beider auf recht wenige Werke höchster Verdichtung und Substanz konzentriert, sie sind das Gegenteil von ‚Vielschreibern‘, und trotzdem klaffen substanzielle Lücken im Katalog ihrer auf Tonträger veröffentlichten Kompositionen.
1952 war „ein guter Jahrgang“ für bedeutende, hochexpressiv veranlagte Komponisten. Während jedoch die Fachwelt auf den siebzigsten Geburtstag von Wolfgang Rihm am 13. März schaut, entgeht den meisten Kollegen der 70. Geburtstag von Halvor Haug am 20. Februar 2022. Haug zählt nicht nur zu den herausragenden norwegischen Meistern in der Geschichte, er ist überhaupt einer der seriösesten Komponisten unserer Zeit. Doch entsprach seine Musik nie der Tagesmode, und sie entzieht sich kategorisierenden Zuordnungen. Weder war er je ein ‚junger Wilder‘, der die Verbindung zur Tradition abgelehnt hätte, noch fügte er sich der handwerklichen Konvention. Seine Musik ist weder intellektuell fragmentarisch ‚gebrochen‘ noch neigt sie zur kitschigen Sentimentalität der Neo-Romantiker. Von Beginn an war Haug – wie es ihm sein zeitweiliger Mentor Robert Simpson attestierte – unabhängig und eigenwillig, dabei stets unverkennbar ‚nordisch‘ in ihrer auffallend dunkel glühenden, die Geheimnisse der tiefen Klänge erkundenden Atmosphäre, der Gegenüberstellung von erratischen Blöcken schroffer, dramatischer, bedrohlicher Energien und eines zarten, zutiefst intimen Lyrismus, der von Einsamkeit des in seinem Inneren reisenden Weltenwanderers spricht.
In seinen fünf Symphonien – von welchen die letzten beiden, 2001 und 2002 entstandenen, bis heute noch nicht eingespielt wurden – erweist sich Haug als genuiner Symphoniker, also als suggestiv den Hörer mitnehmender Baumeister organischen Zusammenhangs, der statt der kleinlichen Fixierung auf klangliche Mikrokosmen bei aller Liebe zum Detail, die sein enormes Können im Subtilen wie im Offenkundigen offenbart, das Erforschen der potenziellen Totale, des Makrokosmos mit einer klar artikulierten Teleologie zum Zentrum seines künstlerischen Strebens erkoren hat, stets aufgipfelnd in einem den Spannungsverlauf unmissverständlich krönenden Höhepunkt und sich überall manifestierend in der vitalen Verwandtschaft der Motive, in der Triebkraft der bei aller Raffinesse stets fasslichen Rhythmen, in irregulär geschmeidig elaboriertem Kontrapunkt, in der Kontinuität der harmonischen Progression, die in sich fortwährend veränderndem Spiel von Licht und Schatten, von Farben und Registern den Hörer leitet wie ein Drehbuch von unwiderstehlichem Suspense.
Auch Haugs andere Orchesterwerke, darunter symphonische Evokationen und Bilder wie ‚Winterlandschaft‘, ‚Insignia‘ oder ‚Preludio dell’Ignoto‘ und Streichorchestrales wie ‚Silence‘ oder ‚Song of the Pines‘, sind von ebensolcher Verdichtung und Kohärenz gekennzeichnet, und seine Symphonien sind wie diese überwiegend einsätzig. Doch auch der für die Mezzosopranistin so dankbare Orchesterlieder-Zyklus ‚Vergiss sie nie‘ (Glem aldri henne) von 1997 ist symphonisch durchorganisiert, wobei das Intermezzo daraus auch als eigenständiges Streichstück gespielt werden kann. Und wir sollten uns Haugs ebenso wundervoller Kammermusik annehmen: 2 Streichquartette, ein Klaviertrio, ein Duo für Violine und Cello von 2002, Werke für 2 Harfen, für Klavier, für Cello solo, für Gitarre zählen dazu. 2002 ist Halvor Haugs bis dahin kontinuierlicher Schaffensfluss aufgrund einer chronischen Nervenerkrankung abrupt zum Halten gekommen. Natürlich hoffen wir, dass er wieder die Kraft zum Komponieren finden wird.
Zwar klingt Haug immer unverwechselbar wie Haug, doch jedes Werk hat seinen ganz eigenen Charakter. Schon in seiner dreisätzigen, introspektiven 1. Symphonie (langsam-schnell-langsam) und der äußerst konzisen und keineswegs leichtgewichtigen ‚Sinfonietta‘ ist seine Sprache vollkommen ausgeprägt. Die 2. Symphonie fasziniert mit den unerhörten Klangmixturen, die aus der Integration von zwei Frauenchören, der Orgel und des solistischen Sopransaxophons exquisiten Facettenreichtum schöpfen. Die hochdramatische 3. Symphonie gliedert sich in zwei Abschnitte, die einander wie linke und rechte Gehirnhälfte spiegeln und gegenseitig bedingen und doch ihren eigenen Gesetzen folgen und mit dem nachtigallenhaften Gesang des Sprossers in reine Naturhaftigkeit ausmünden.
Die 4. Symphonie, gewidmet den unschuldigen Opfern des internationalen Terrorismus, und 5. Symphonie, dem Gedenken an seinen verstorbenen Vater zugeeignet, zeugen von weiter zunehmender Konzentration auf das Wesentliche, auf eine Innenwelt, die in ihrer Kompromisslosigkeit die Kenner unwillkürlich an Sibelius’ 4. Symphonie denken lässt. Was Haug mit Sibelius überdies gemein hat, ist die bei ihm zu höchster Entfaltung getriebene Kollision einander fremd gegenübertretender Harmonien, die auf den Hörer mit der Elementarkraft tektonischer Plattenverschiebungen einzuwirken scheinen: daher auch die von feinstem Schwingen bis zu heftigsten Beben reichenden Erschütterungen, die uns so naturhaft und zugleich beseelt dramatisch anmuten. Hier zeigt sich Haug als wahrer Weiterentwickler des zeitlosen Pioniers Sibelius auf der Höhe unserer Zeit, und sein Sinn für Proportionen und orchestrale Balance ermöglich ihm die vollendete Umsetzung seiner Visionen. Es ist überfällig, Halvor Haugs Musik umfassender darzubieten und kennenzulernen.