Das war 1974 die Fahrt in die Nürnberger Oper wert: Dieser schon etwas berüchtigte Schauspiel-Regisseur Hans Neuenfels inszenierte erstmals Oper, Verdis „Troubadour“. Es wurde ein Abend, der die wiederholte Fahrt geradezu nötig machte: kein irgendwie historisierendes Spanien, vielmehr etliche Werkrätsel dramaturgisch gelöst, ja sichtbar entschlüsselt.
Neu: die Gliederung in elf Bilder; Bühne und Kostüme ließen freiheitliche Zigeuner-Welt und adelige Lebensrituale aufeinanderprallen; Graf Luna war leicht verwachsen, daran natürlich eine „Hexe“ schuld und deshalb verbrannt; Luna mit Edelstein-besetztem kleinen Buckel erschien natürlich auf Kompensation und folglich auf Schönheit fixiert, Leonora auch deshalb dem schönen Künstler Manrico zugetan; unvergesslich grotesk die Entführer-Truppe Lunas in der Klosterkirche zu absurden Heiligenfiguren erstarrt; als Manrico bei Leonoras Befreiung den unerkannten Bruder Luna töten will, erstarrt zum Orchester-Tutti alles – Lichtwechsel – und ein Engel mit Palmenzweig geht, Frieden erzwingend, den Brudermord verhindernd, durch den Kirchenraum. Die Reaktionen: Pfui-Rufe, höhnisches Gelächter, die Aufführung dem Abbruch nahe, Nürnbergs bis dahin größter Opernskandal – andererseits: Überwältigung, suggestive, bis heute unvergessliche Impressionen.
Es folgten nachlesbare, leider nur in Teilen aufgezeichnete Wegmarken der Opern-Interpretation: 1976 „Macbeth“ in Frankfurt, wo hinter dem Sänger und seinen Mordvisionen ein Double mit Dolch hervortritt und den Sänger Totentanz-ähnlich umkreist; 1979 Schrekers „Gezeichnete“ mit einem Frankenstein-ähnlichen Alviano; 1981 dann im Team mit Dirigent Michael Gielen und Dramaturg Klaus Zehelein die radikale Entkitschung von allem Ägyptologischen: „Aida“ als böser Traum im Antiken-Museum, die Titelfigur als heutige Sklavin – als Putzfrau; im Triumphmarsch die Spiegelung jedes Hochkultur-Publikums auf der Bühne, das die Vorführung (fast-)nackter Wilder wie in einstigen Ethno-Schauen feiert – Reaktion: siehe Nürnberg 1974 … doch nicht nur war ein vermeintlicher „Verdi-Schinken“ zur Kenntlichkeit freigelegt, von nun an war „Regietheater“ in der Oper ein Kampfbegriff.
Es folgte abermals Interpretationsgeschichte: 1982 Verdis „Forza del destino“ mit einer zweiten Bühnenebene, auf der die Kolonialmacht Spanien und die Vernichtung des Inka-Reiches als Kontrast angerissen wurde; 1998 in Stuttgart eine Sternstunde mit „Entführung aus dem Serail“, mit der durchgängigen Trennung von Mozart-Sänger und Sprechschauspieler, was keinerlei Doppelung brachte, sondern emotionale Ambivalenzen und gesellschaftliche Attitüden offenlegte (auf DVD nachvollziehbar) – und in einem souverän überlegenen Bassa Selim, der zum Abschied der ach so kultivierten Europäer dann Mörikes „Denk es, o Seele“ zitiert – Jubelstürme! Und andererseits bundesweiter Skandal 2003 an Berlins Deutscher Oper: Zum Finale in Mozarts „Idomeneo“, in dem Gott Neptun etwas banal zur Konfliktlösung umschwenkt, ließ Neuenfels die Götter-Köpfe von Neptun, Buddha, Mohammed und Jesus als „erledigt“ ablegen, um den Triumph menschlicher Liebe zu feiern – das eskalierte zum bundesweit hochkochenden Streit um „Religionsdiskriminierung“, endete mit der Absetzung der Inszenierung und gipfelte letztlich im frühzeitigen Ausscheiden der Intendantin.
2010 folgte für Neuenfels sein „Chéreau-Erlebnis“ in Bayreuth: Er hatte die ja meist einheitlich reagierenden Chormassen in seinem Versuchslabor menschlicher Reaktionen in visuell wie inszenatorisch uniforme Labormäuse verwandelt. Wüste Ablehnung im ersten Jahr – einhelliger Beifall im letzten Zyklus nach vier Jahren „Lernzeit“ beim Publikum. Zählte der Chronist jetzt noch von 1964 bis 2007 die über 100 anzuführenden Schauspielpremieren auf, wären nicht nur Zahlen, sondern auch die künstlerische Spannbreite beeindruckend – von antiken Klassikern, viel zeitgenössischer Moderne bis zur Uraufführung eigener Sprech- wie Musiktheater-Kreationen –, unterfüttert von unendlichen Zigaretten, zunehmend viel Alkohol und einer ergebenen, stilistisch sicher zuarbeitenden Assistentenschar.
Alles basierte auf einem unspektakulären Studium an der Essener Folkwang-Schule und dem Wiener Reinhardt-Seminar. Dort trat mit Elisabeth Trissenaar nicht nur eine hochexpressive Schauspielerin, sondern auch eine Partnerin für die nächsten 50 Jahre bis jetzt, zu seinem Tod, an seine Seite. Sie trug sein mitunter krisenhaft eskalierendes, weil obsessives Offenlegen menschlicher Abgründe unter aller kulturell geschönter Tradition in der Vorbereitung mit, trat mehrfach in seinen Inszenierungen auf und ertrug sein Außenseitertum, das er in der Autobiografie mit dem ernst gemeinten Titel „Bastardbuch“ lesenswert offenlegte.
Darin auch der wohl zentrale Einfluss, die oft visualisierte Sicht auf die doppeldeutige Realität: der junge Schriftsteller und Lyriker Neuenfels lernte 1962/63 in Paris Max Ernst kennen und wurde für ein Jahr sein Assistent – wo sonst konnte er existentieller und hochartifizieller aufsaugen, dass Ding und Bild mehr als eine Oberfläche haben? Das schonungslose Sichtbarmachen, das verstörende „In-Szene-Setzen“ von „sur“ und „sub“ dem Werk Gelegenen, Verborgenen, Verdrängten – das leisteten Neuenfels-Inszenierungen in ihren besten Momenten. Dafür ist „Danke!“ zu sagen – und: All das wird fehlen!