[…] Die Zeit ruhiger Entwicklung nahm ein jähes Ende, als Hermann Scherchen nach dem Besuch der Realschule gezwungen wurde, einem Broterwerb nachzugehen und, da der Vater inzwischen verstorben war, die Fürsorge für die Familie zu übernehmen. Es beginnen für ihn Jahre von unbeschreiblicher Härte und Mühseligkeit. Als Geiger im Kaffeehaus, als Aushilfsmusiker in verschiedenen Berliner Orchestern, mit meist schlecht bezahlten Unterrichtsstunden muß der notwendigste Lebensunterhalt verdient werden; und jeder ersparte Pfennig wird zur eigenen Weiterbildung verwandt. Auf dem Geigenpult Scherchens in den Berliner Nachtcafés liegen zwischen den Schlagern philosophische Schriften und wertvolle musikalische Literatur: und jede freie Minute wird, inmitten des Lärms kreischender Kokottenstimmen, benutzt, um zu lesen und zu studieren. […]
Vor 100 Jahren – Deutsche Dirigenten der Gegenwart: Hermann Scherchen
Diesen Lebensweg Hernann Scherchens muß sich ein jeder vor Augen halten, der zu seinem Künstlertum die rechte Einstellung gewinnen will. Scherchen ist es nicht gewohnt, sich eine Sache in irgendwelcher Beziehung leicht werden zu lassen. Er kennt nicht den Begriff Routine. Alles, was er tut, geschieht mit dem ganzen Einsatz seiner leidenschaftlichen Persönlichkeit, seiner fieberhaften Arbeitskraft und einer Intensität, die Fernstehen den wohl zuweilen als krampfhaft erscheint, die aber sein eigenstes Wesen ausmacht. Die Tätigkeit Scherchens in Deutschland in der ersten Zeit nach dem Krieg hat es mit sich gebracht, daß man in ihm vorwiegend einen Propagandisten radikal-moderner Werke sieht. Sehr zu Unrecht! In Wahrheit ist Scherchen ein Musiker von außerordentlich starken historischen Interessen. Man muß einmal erlebt haben, wie Scherchen, inmitten einer Flut von Besprechungen, Proben, Konzerten sich die Stunden abspart, um sich in der Thomaskirche zu Leipzig älteste Orgelliteratur von dem jungen Meister Günther Ramin vorspielen zu lassen, oder wie er Orchesterstimmen zu einem Concerto grosso Händels, zu Ballettmusiken Glucks, Lullys oder Rameaus bezeichnet, wie er auf Orchesterproben die Stilistik verschiedener Zeitalter auseinanderzuhalten und auch dem schlichtesten Orchestermusiker zu erklären weiß. Nein sicherlich: dieser Mann ist kein engstirniger Radikaler! Er ist ein Musiker, dessen Horizont nur besonders weit gespannt ist.
Will man aber mit kritischem Blick die Grenzen abmessen, die ihm aus seinem eigenen Wesen heraus gesteckt sind, so laufen diese keineswegs zeitlich, zwischen „alter“ und „,neuer“ Musik. Wohl aber ist ein Unterschied zu machen, ob Scherchen eine von innerer Spannung erfüllte, mit der Schärfe des musikalischen Gedankens arbeitende Musik interpretieren soll oder eine Musik, die, an der Oberfläche haftend, nur den ,,schönen Klang“ sucht. Mit dieser letzten Art Musik hat Scherchen allerdings nur geringere Fühlung. Zu sehr ist er selbst in jedem Augenblick von Energie und Spannung erfüllt, als daß er zu solcher innerlich „entspannter“ Oberflächenkunst ein enges Verhältnis gewinnen könnte. Das heißt aber noch keineswegs, daß ihm Klangsinn schlechthin fehle. Wer einmal den letzten Satz der Dritten Symphonie Gustav Mahlers unter seinem Stabe hat erklingen hören, der wird wissen, welcher Klangsinn in diesem Musiker wohnt. Nur ist Scherchen nicht gewillt, der Schönheit des Klanges irgend etwas von der Klarheit der gedanklichen Entwicklung zu opfern. Er haßt die schmalzigen Violoncellokantilenen und die Klangprotzerei „schöner“ Posaunenklänge. Wer einmal Gelegenheit hat, unter Scherchen die e moll-Symphonie von Brahms zu hören, der achte z. B. auf den Eintritt der Posaunen im letzten Satz. Wie völlig entmaterialisiert ist da (willige Spieler vorausgesetzt!) deren Klang! Aus dieser Abkehr vom Klang als solchem ergibt sich auch ganz natürlich Scherchens Einstellung und sein enges inneres Verhältnis zur jüngsten Tonkunst. Diese ist ja, in großem geschichtlichen Zusammenhang gesehen, nichts weiter als eine scharfe Reaktion gegen die immer mehr in der Routine eines flachen Eklektizismus erstarrende Klangseligkeit der neudeutschen Schule. Geistigkeit soll wiederum an Stelle von Sinnenfreude treten. Und in diesem Grundstreben ist Hermann Scherchen der musikalischen Moderne innerlichst verbunden. Es ist möglich, daß die breite Masse des Publikums seiner Art zu musizieren deshalb fremd und kühl gegenüber steht, so zwingend diese Art auch einem kleineren (aber bestimmt wertvolleren !) Teil von Hörern erscheint. Aber es ist kaum anzunehmen, daß ein Mann wie Scherchen, der auch in seinem persönlichen Wesen kantig und konzessionslos ist, darauf jemals Rücksicht nehmen wird. Ihn kümmert im Konzertsaal immer nur das, was vor ihm geschieht, nie das, was das Publikum dazu meint. Die Arbeit mit dem Orchester ist für Scherchen das eigentlich Wertvolle an seiner Tätigkeit als Dirigent, niemals der äußere Erfolg. Scherchen ist der typische Orchestererzieher. Wie bei sich selbst, so mag er auch beim Orchester nichts wissen von glatter, nicht mehr an sich selbst arbeitender Routine. Auch das bekannteste Werk wird von Grund auf probiert und neu erarbeitet. So kann sehr wohl bei Scherchen der Fall eintreten, daß er mit einem weniger guten Orchester, das aber fest in seiner Hand ist und allen seinen Intentionen willig Folge leistet, mehr erreicht als mit einem routinierten Orchester, bei dem sich (aus der Routine heraus) Widerstände gegen seine urpersönliche Art zu musizieren ergeben. […]
Dr. Adolf Aber, Neue Musik-Zeitung, 45. Jg., Juni 1924, Heft 1
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