Am 15. und 16. Dezember setzt Christian Thielemann mit der Sächsischen Staatskapelle in der Dresdner Frauenkirche mit dem zweiten Teil die Aufführung von Bachs Weihnachtsoratorium fort. Seit einem Vierteljahrhundert hatte das Orchester den Kantatenzyklus nicht mehr aufgeführt, für den designierten Chefdirigenten ist es gar das erste Dirigat des Werkes. Im Gespräch mit Michael Ernst gibt der Maestro und Weimarer Ehrendoktor Einblicke in seinen Annäherungsversuch.
Johann Sebastian Bach gilt als der Anfang und das Ende aller Musik. Wie wichtig ist denn Bach für den Musiker Christian Thielemann?
Ja genau! Bach ist der Anfang und das Ende. Und deswegen muss ich das jetzt machen.
Bachs Musik ist das erste tägliche Brot meiner Musikerlaufbahn gewesen. Als Klavierspieler sind Sie ja ganz schnell bei den Inventionen und beim Wohltemperierten Klavier – der hat für mich immer den ersten Platz eingenommen, der Bach. Nur gab es eben später mehr Opern- und andere Konzertliteratur, womit ich mich beschäftigte, da bin ich nicht dazu gekommen, traurigerweise. Das hat sich deshalb auch nie ergeben, mich Bach zu widmen, weil meine Laufbahn so anders lief. Das ging in ein bestimmtes Repertoire rein, dass für Bach keine Zeit blieb, sträflicherweise. Das hat sich nie ergeben und ich hab es immer gewollt.
Aber eine Beschäftigung mit Bach gab es schon, oder?
Ja, in Nürnberg hab ich wohl mal die eine oder andere Ouvertüre dirigiert, die Kreuzstab-Kantate oder so etwas, aber beispielsweise nie eine der Bachschen Passionen.
Welchen Stellenwert hat nun das „Weihnachtsoratorium“ für Sie?
Seit Kindertagen gehört es dazu. Ich bin damit aufgewachsen und kenne den Text wie die Musik. Das ist für mich etwas, das zu Weihnachten einfach nicht fehlen darf, an dem ich mich nicht überhören kann.
Wieso haben Sie es nie zuvor selbst dirigiert?
Das hat sich nie ergeben und ich hab es immer gewollt. Erst jetzt durch diesen Wechsel von München, wo ich es machen wollte, nach Dresden, wo man mich bat, schon vor Vertragsbeginn einige Dirigate zu übernehmen, ist das möglich geworden.
Aber ein Wunsch ist es schon gewesen?
Ja, seit wahnsinnig langer Zeit. Darum hatte ich hier auch sofort die Idee, wir machen das „Weihnachtsoratorium“ und spielen es nicht in der Semperoper, sondern in der Frauenkirche.
Sie kennen Ihr künftiges Orchester inzwischen von vielen Konzerten, haben da aber nie Barock-Musik dirigiert. Welche Erwartungen haben Sie nun an dieses Oratorium, das die Kapelle so lange nicht aufgeführt hat?
Die Mitglieder des Orchesters spielen diese Musik natürlich jedes Jahr in allen möglichen Kirchen landauf, landab. Aber das Orchester als Orchester, als Staatskapelle, hat diese Musik lange nicht gespielt, in der Tat. Insofern freuen sich da alle drauf. Und es gehört ja zum Repertoire mit dazu, auch zu meinem. Da liegt also nichts näher, als es jetzt zu machen.
Wie stellen Sie sich auf den sehr speziellen Klangraum der Frauenkirche ein?
Ja, das ist eine Frage, da haben Sie recht. Da muss man sehr deutlich spielen. Allerdings muss man sich hüten, überzupointieren. Das ist eine Gefahr, dass man in einen Interpretierrausch gerät – und dabei völlig vergisst, da ist auch eine ganz ruhige, fließende Naivität in dieser Musik.
Wissen Sie, Naivität auf hohem Niveau. Man macht gar nicht so viel. Und das aber mit voller Überzeugung. Ich mache das ganz bewusst, dass ich mich da zurücknehme. Etwas anderes wäre der Geschichte auch gar nicht angemessen, die ist ja kein Drama, ist keine Oper. Warum sollte ich da zu Stilmitteln greifen, die eigentlich etwas überziehen?
Ich versage mir ganz bewusst manche Dinge aus diesem Ausdrucksrepertoire, weil sonst so viel verloren geht. Es gibt eine heilige Einfachheit, eine heilige Einfalt. Und die darf die Musik nicht verlieren.
Ist diese Musik nicht eher ein weltliches Stück, das die christliche Weihnachtslegende zu einer ganz menschlichen Geschichte macht?
Der Text ist ja uns allen bekannt. Wobei ich mich immer gewundert habe, dass man am Anfang – „Es begab sich aber zu der Zeit ...“ – kaum betont. Müsste es nicht heißen: „Es begab sich aber zu DER Zeit, als ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging ...“? Man hat das so im Ohr. Überhaupt gehört dieses Werk ja zur Grundausstattung eines jeden in einem bestimmten Ambiente aufgewachsenen Menschen. Es ist aber auch wichtig, dass man einem jüngeren Publikum diese Texte und das alles relativ ungekünstelt bietet. Es ist nicht für Spezialisten geschrieben, auch nicht für Hörspezialisten. Sie wollen eigentlich alle erreichen. Für mich geht es da nicht um irgendwelche Effekte. Der Text ist der Effekt.
Gucken Sie nur in die Partitur rein. Da steht an Vortragsbezeichnungen so gut wie nichts drin. Ich denke mir, dass der Bach sich das genau überlegt hat, warum er so wenig an Vortragsbezeichnungen schreibt.
Von Bach werden Sie relativ schnell zu Lehár wechseln, im Silvesterkonzert für das ZDF. Wie gelingt dieser Wechsel?
Er gelingt, weil ich erstens ein breites Repertoire habe und zweitens mit Operette angefangen habe. Als Dirigent. Als Klavierspieler mit Bach, als Dirigent mit Operette. Ich fühle mich in beidem zu Hause und finde es richtig, dass man das zeigt. Ich bin ja gar nicht gegen Spezialistentum, aber das wird einem so schnell nachgesagt, Spezialist für irgend etwas zu sein, weil man bestimmte Dinge in seiner Karriere halt öfter gemacht hat. Ob man dann Spezialist ist, weiß ich gar nicht. Man ist eben erfahrener. Und ich bin beim Bach nicht so erfahren, darum will ich diese Erfahrung jetzt etwas auffrischen. Aber bei Lehár bin ich ziemlich erfahren, in diesem Stil kenne ich mich gut aus. Das macht natürlich mit dem Orchester einen Höllenspaß.
Folgt auf die Besinnung im Oratorium dann die Besinnungslosigkeit der Operette?
Nein, es geht darum, beides so zu dirigieren, dass man nicht übertreibt. Bei der Operette dürfen Sie nicht ins Süßliche, ins allzu Deftig-Kitschige abschweifen, sondern müssen das sehr ernst nehmen. Und da sind wir vom „Weihnachtsoratorium“ gar nicht so sehr entfernt. Sie müssen beide Stücke sehr ernst nehmen. Die heilige Einfachheit ist manchmal ganz klar.
Es gibt Stücke, die danach dürsten, richtig stark interpretiert zu werden. Es gibt aber auch Stücke, denen man mit einer allzu pointierten und allzu drübergestülpten Interpretation eher schaden. Das ist komischerweise bei Lehár auch so. Das müssen Sie mit ganz großem Ernst spielen.
Wie werden Sie persönlich ins Jahr 2012 gehen, das ja mit Ihrem Amtsantritt als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle verbunden sein wird?
Ich bin doch schon da in Dresden! Wenn Sie mich jetzt fragen würden, ob ich das Gefühl habe, hier anzufangen, muss ich sagen, nein. Das war ein gleitender Übergang. Ich hab mit dem Orchester schon Bruckner, Liszt, Telemann gespielt. Das ist doch herrlich! Je früher Sie anfangen, umso schöner ist es. Wie gesagt, ich bin schon hier. Auch wenn das nicht in meinem Vertrag steht. Es wird dann nochmal interessant werden, wenn dieser richtige Anfang kommt. Aber es ist auch schön, dass der nicht mit einem Schock-Erlebnis verbunden sein wird. Wir machen dann einfach weiter.
Das ist natürlich ein Sonderfall, sowas hab ich noch nie erlebt.