Ein langer Blonder mit Rockabilly-Haartolle. Er spielt Schlagzeug. Was heißt „spielt“: Er wirbelt Schlagzeug. Und steckt mit seiner Musik neue Horizonte ab: Christian Lillinger. Jetzt gibt es einen Film über ihn, „Gegen den Beat“ von Jan Bäumer: Drum-Power zum Sehen (3sat, 24.9., 22.45 Uhr)
Zeitlupe ist gut bei einem wie ihm. Denn dieser Musiker bewegt sich schneller und denkt schneller als die meisten anderen. Der deutsche Schlagzeuger Christian Lillinger, geboren 1984, ist eine Ausnahmebegabung – mit Sicherheit eines der größten Talente innerhalb der jungen Jazzmusiker-Generation in ganz Europa. Sein Hochschul-Lehrer Günter „Baby“ Sommer wusste früh, dass dieser junge Mann aus dem Spreewald ein „internationales Aushängeschild“ werden könnte. Und heute ist Lillinger mindestens auf dem Weg dazu. Seine Musik ist drängend, kraftvoll, kompromisslos. Sie fordert den Hörer. Und zugleich springt sie ihm entgegen – mit enormer Energie.
Wenn Lillinger spielt, haben die Augen Mühe, seinen Bewegungen zu folgen. Diese Bewegungen laufen scheinbar kreuz und quer über Trommelfelle und Becken – und haben dabei doch sicht- und hörbar System. Er ist ein hochpräziser Wirbelwind, dieser Drummer. Ein Musiker mit Potenzial – und mit visionärer Kraft. „Das ist die Zukunft“, sagt etwa der Jazz-Veranstalter Volker Rennert über ihn und seine Töne. Und Nils Landgren, ungemein populärer Posaunist aus Schweden und zugleich in Deutschland sehr erfolgreicher Festivalmacher, ergänzt: „Ich glaube, wir haben das gleiche Ziel. Wir wollen die Welt mit unserer Musik verändern.“
In Zeitlupe also kann man diesen fesselnden jungen Musiker gleich zu Anfang sehen: die Konzentration seines Spiels studieren – während die verlangsamten Klänge zu einem entrückten Rauschen mutieren. Der Filmemacher und Journalist Jan Bäumer hat eine 43-minütige Dokumentation über Christian Lillinger gedreht, die jetzt auf 3sat läuft (24. September, 22.45 Uhr) und dann noch sieben Tage online zu sehen ist. Der Untertitel klingt einschränkend und bescheiden: „Christian Lillinger und die JazzBaltica“. Denn rund um dieses erfolgreiche Festival in Schleswig-Holstein entstand der Film. Aber die Geschichte dieses Schlagzeugers führt in ganz andere Dimensionen. Einer, der ausbrach aus der Enge: So könnte man sie auch betiteln. Oder auch so: Wie Musik neue Welten erschließt.
Christian Lillinger wuchs in einem Dorf im Spreewald auf. Eine Gegend, bekannt für eingelegte Gurken, aber nicht fürs rauschende Leben. Enge, Abgeschiedenheit. Er erinnert sich an die erste Fahrt nach Berlin mit seinen Eltern nach dem Mauerfall. „Super viel Licht! Das war unglaublich“. Vorher: „Immer nur grau“. Seine Mutter sagt, als Kind sei Christian Lillinger für die ganze Familie stets „irgendwie der kleine Trommler“ gewesen, aus dem nüscht wird“. Aber es wurde was aus ihm – und die Trommeln brachten ihn entschieden weiter. Denn der Junge, der nicht viel mit sich oder Gleichaltrigen anzufangen wusste, bekam von den Eltern irgendwann ein Schlagzeug. Und Christian Lillinger saß fortan nach der Schule bis zum späten Abend im Keller am Instrument und spielte bald verblüffend komplexe Dinge. Die Drumsticks nahm er sogar ins Bett mit, und auf eine Klassenfahrt verzichtete, um zuhause üben zu können. Bereits mit 16 konnte er durch die Hilfe der Schlagzeug-Ikone Günter „Baby“ Sommer, damals Professor für Schlagzeug und Percussion, ein Studium an der Hochschule in Dresden beginnen; Lillinger schloss es vier Jahre später mit höchster Punktzahl ab, nicht ohne vorher beim Lehrpersonal immer wieder angeeckt zu sein durch sperriges Verhalten. Danach ging er nach Berlin – und mit Bands wie „Hyperactive Kid“ und „Amok Amor“ sowie „Christian Lillingers Grund“ verblüfft und überzeugt er seither die Fachwelt, und zwar längst über Deutschland hinaus.
„Ich hab durch Musik die Welt kennen gelernt – wie sie sein könnte, und wie viel freier“, sagt Christian Lillinger in einer der Interview-Szenen im Film. Das stimmt bei ihm in ganz konkreter Hinsicht: vom Spreewald in die Hauptstadt und in viele andere kulturelle Zentren. Und es stimmt im übertragenen Sinn: Seine Musik ist eine ganz eigene Welt, die sich ständig erweitert. Denn Christian Lillinger ist einer, der stets nach neuen Texturen sucht, für den Musik ein täglich neu zu entdeckendes Terrain ist, eine Herausforderung. Er sagt: Er wolle nicht „die ganze Zeit gefallen“. Sondern: „Ich will etwas geben, was mehr Relevanz hat und Beispiel sein kann für ‚ne Alternative.“ Der deutsche Jazzpianist Joachim Kühn, seit den 1960er Jahren ein weltweit bekannter Star seiner Zunft und in den letzten Jahren immer mal wieder Musikpartner von Christian Lillinger, sagt über den 40 Jahre jüngeren Kollegen: „Der ist was Besonderes, das ist nicht das Normale“. Und Christopher Dell, Vibraphon-Spieler und Universitäts-Gelehrter, nennt Lillingers kompromisslose Musik ein Beispiel dafür, „wie man authentisch ist im Leben“.
Christopher Dell erzählt auch, dass er sich anfangs stets gefragt habe: „Wo ist denn der Beat?“ Bis er gemerkt habe, dass Christian Lillinger einfach „25 Beats gleichzeitig“ spiele. Viele Beats, die ungemein präzise und völlig unkonventionell sind – und damit „Gegen den Beat“ gehen. Jan Bäumers Film lässt den Zuschauer und Zuhörer nach und nach die eigenwillig-schöne Klangwelt Lillingers entdecken, erschließt sie. Und man merkt schnell: Das ist keine musikalisch enge Welt, in der es nur um Geschwindigkeit und spieltechnische Perfektion geht. Sondern es ist eine Musikwelt mit ungemein innigen Momenten. Christian Lillinger: ein Wirbelwind von außergewöhnlicher Empfindsamkeit. Aus ihr erwächst ein seltener Ausdrucksreichtum. Den hört und spürt man hier – auch wenn die Zeitlupe dann ins rasante echte Tempo wechselt. Ein Film über Jazz und seine Möglichkeiten.
„Gegen den Beat – Christian Lillinger und die JazzBaltica“. 3sat, 24. September, 22.45 Uhr, anschließend sieben Tage lang in der Mediathek.