Am 10. August 1970 nahm sich Bernd Alois Zimmermann in seinem Haus in Groß-Königsdorf bei Köln das Leben. Selbst für Menschen seines nächsten Umfelds erfolgte dieser Selbstmord aus „heiterem Himmel“. Doch im Rückblick auf die letzten Lebens- und Schaffensjahre des Komponisten verdichten sich – bei aller Vorsicht gegenüber voreiligen Deutungen des Lebens im Werk – düstere Vorzeichen, die ihn schließlich zu dieser Verzweiflungstat trieben: psychische, physische, private, politische und künstlerische.
Ab Dezember 1969 verbrachte Zimmermann ein halbes Jahr in der psychiatrischen Abteilung der Kölner Universitätsklinik. Wegen einer bipolaren manisch-depressiven Störung konnte er die Uraufführung seines „Requiem für einen jungen Dichter“ in Düsseldorf nicht erleben. Das gewaltige Oratorium für Sprecher, Gesangssolisten, drei im Raum verteilte Chöre, Orchester, Jazz-Combo, Orgel und elektronische Klänge ist eine Schreckensbilanz des von ihm selbst durchlebten letzten halben Jahrhunderts, von seiner Geburt 1918 in Bliesheim bis zur damaligen Entstehungszeit des Werks 1968 mit Studentenrevolte, Prager Frühling, Vietnamkrieg, Kaltem Krieg und Wettrüsten. Texte der jungen Dichter Jessenin, Majakowski und Bayer, die sich alle das Leben nahmen, machen das Riesenwerk zu einem Epitaph für die an der Wirklichkeit gescheiterten Dichter, die Kunst insgesamt und letztlich auch für den Komponisten selbst.
Zimmermann sah die Musik damals am Ende, weil sie ihre existentielle Bedeutung für die Menschen verloren habe, politisch ideologisiert, verharmlost und bloß noch konsumiert werde. Im Abschiedsbrief an seine Tochter Bettina schrieb er, „daß sich die Musik … selbst umgebracht hat“. Und gegenüber seinem Verleger sprach er sechs Wochen vor seinem Suizid vom „Selbstmord der Kunst“. Zahllose weitere erhellende Zeitzeugnisse, Briefe, Dokumente, Fotos, Skizzen und Kommentare zu seinem Leben und Werk erschienen anlässlich seines hundertsten Geburtstags 2018 in Bettina Zimmermanns Buch „con tutta forza – Bernd Alois Zimmermann: Ein persönliches Porträt“. Für Unfrieden in Ehe und Familie sorgte Ende der 1960er-Jahre auch Zimmermanns Liebschaft mit einer Cousine des Dirigenten Michael Gielen, der 1965 Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ an der Kölner Oper zur Uraufführung gebracht hatte und dann auch das „Requiem“ dirigierte. Belastend waren ferner finanzielle Nöte infolge des neu gebauten Hauses in Königsdorf und Zimmermanns grassierende Fehlsichtigkeit, die ihm das Arbeiten zunehmend erschwerte.
Sein „Requiem“ konzipierte er als „Lingual“ mit zahlreichen gesprochenen und gesungenen Texten von Poeten, Philosophen sowie per Tonband zugespielten Originaldokumenten von Persönlichkeiten der jüngeren Weltgeschichte: Hitler, Stalin, Goebbels, Roland Freisler, Mao, Alexander Dubcek, Papst Johannes 23. Neben Musikzitaten von Wagner bis zu den Beatles erklingt direkt vor dem Schlussteil die sogenannte „Schreckensfanfare“ vom Beginn des Finalsatzes aus Beethovens 9. Symphonie. Statt der „Ode an die Freude“ folgt dann jedoch ein Pandämonium aufgewühlter Menschenmassen, Demonstrationen, Kriegshetze und Funksprüche über anfliegende Bombergeschwader. An die Stelle des weltumarmenden „Alle Menschen werden Brüder“ tritt ein mit voller Kraft „con tutta forza“ gesungenes „dona nobis pacem“, Herr gib uns Frieden!
Auch andere „Spätwerke“ des schon mit 52 Jahren aus dem Leben Geschiedenen zeugen von Ende und Tod. Das Orchesterwerk „Photoptosis“ (1968) besteht aus einem riesenhaften Crescendo, das bei maximaler Stärke fallbeilartig abreißt, als würde mit einem Mal die Schwelle zu einer neuen Sphäre übertreten, die sich nicht mehr in Töne fassen lasse. Das vorletzte Orchesterwerk „Stille und Umkehr“ (1970) versiegt dagegen auf ein Minimum. Der musikalische Fluss hängt nur am seidenen Faden eines einzigen dünnen Zentraltons d, der von Anfang bis Ende leise durchläuft. Ohne die sanften Akzente einer Bluestrommel würde die Zeit vollkommen stillstehen. Vielleicht intendierte der rheinische Katholik hier etwas der tröstenden Idee des ewigen Lichts vergleichbares: die flackernde Aufhebung von Zeit am dünnen Docht der Gegenwart. Als testamentarischen Schlusspunkt komponierte Zimmermann „Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne“. Wie frühere Werke stützt sich diese „ekklesiastische Aktion“ auf Verse aus dem alttestamentarischen Buch „Prediger“ („Liber ecclesiastes“). Der trostlos-pessimistische Text gipfelt in der Klage „Weh dem, der allein ist!“. Die Vortragsanweisung verlangt dazu vom Solobassisten „gestoßene, gequälte, gepresste Laute des Schreckens, der Verlassenheit und der menschlichen Erbärmlichkeit“. Anschließend spielen die Blechbläser Bachs Sterbechoral „Es ist genug“. Dessen strahlenden E-Dur-Halbschluss durchkreuzt ein schroff dissonierender fff-Liegeton von im Saal postierten Posaunen.
Zimmermann vermerkte die Vollendung dieses apokalyptischen Werks am 5. August 1970 mit dem Zusatz „Omina ad majorem dei gloriam“: alles zur höheren Ehre Gottes. Fünf Tage später nahm er sich das Leben.
Anlässlich seines Todestags vor fünfzig Jahren lud die 2014 gegründete Bernd-Alois-Zimmermann-Gesellschaft zu einer kleinen Feierstunde ans Grab des Komponisten und seiner Frau auf dem Friedhof Süd in Königsdorf. Der Grabstein besteht aus zwei großen Schieferplatten und einem in der Mitte auseinander gesägten Basaltblock. Die Tochter des Komponisten Bettina Zimmermann las aus der Familienbibel im „Buch Prediger“ sowie aus einem Aufsatz der dieses Jahr im Wolke-Verlag neu edierten Gesammelten Schriften des Komponisten.
Der Musikwissenschaftler und Vorstand der Bernd-Alois-Zimmermann-Gesellschaft (BAZG) Ralph Paland würdigte Zimmermanns Lebensleistung und leitete zu Solowerken von Bach und Zimmermann über, gespielt von Bratschist Sebastian Gottschick. Anwesend waren unter anderem drei ehemalige Zimmermann-Schüler: Harald Banter, Georg Kröll und York Höller. Wegen der aktuellen Hygieneregeln war die Teilnahme leider stark beschränkt, so dass viele Interessierte abgewiesen werden mussten.