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Guillem Borràs Garriga bei der Sichtung der originalen Musik-Manuskripte von Camilla de Rossi (aus dem Oratorium „Santa Beatrice d‘Este“ von 1707) in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Foto: Guillem Borràs Gariga

Guillem Borràs Garriga bei der Sichtung der originalen Musik-Manuskripte von Camilla de Rossi (aus dem Oratorium „Santa Beatrice d‘Este“ von 1707) in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Foto: Guillem Borràs Gariga

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Auf den Spuren der vergessenen Musik

Untertitel
Ein Gespräch mit dem Dramaturgen Guillem Borràs Garriga, der Musik aus der Barockzeit erforscht
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„Il Gusto Barocco“ ist ein Barockorches­ter aus Stuttgart, das vergessene Barockmusik wiederentdecken möchte und dabei kreative Konzepte für einen neuen Zugang zur Musik eröffnet. 2023 beschäftigte sich das Orches­ter mit Komponistinnen der Barockzeit und bediente damit ein Thema am Puls der Zeit. Doch die Recherche auf den Spuren der vergessenen Musik war nicht einfach. Dramaturg Guillem Borràs Garriga hat uns erzählt, wie das Orchester bei der Recherche arbeitet und die unbekannten Werke auffindet.

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neue musikzeitung: „Il Gusto Barocco“ möchte versuchen, den aktuellen Forschungsstand der Barockmusik hörbar zu machen. Wie darf man sich diese Arbeit genau vorstellen und was sind die Ziele des Orchesters?

Guillem Borràs Garriga: Unser Fokus liegt darin, unbekannte Barockwerke wiederzuentdecken. Es gibt so viel, das noch nicht gespielt wurde und nun erforscht werden muss. Und das ist seit 2015 unsere Mission. Wir suchen immer ein Thema und versuchen dann, neue Stücke zu finden, die bislang noch nicht aufgeführt wurden. 2023 haben wir uns auf Komponistinnen in der Barockzeit konzentriert. Und da haben wir dann geschaut, welche Werke von Komponistinnen bislang noch nicht aufgeführt wurden. So sind wir dann auf Antonia Bembo, Camilla de Rossi und Maria Margherita Grimani aufmerksam geworden.

nmz: Wie sind Sie auf genau diese Komponistinnen gekommen? Wie sah der „Forschungsweg“ aus?

Borràs Garriga: Unser Ziel ist nicht nur, barocke Musik zu präsentieren, sondern auch aktuelle gesellschaftliche Themen aufzugreifen. Diese Themen versuchen wir dann in die Arbeit des Barockorchesters zu integrieren. 

Wir haben immer zwei Hauptprogramme zum Thema der Saison: eine sogenannte Kantate mit Vokalmusik in kleiner Besetzung und eine Oper. Es gibt allerdings nicht viele Barockopern von Komponistinnen, die noch nicht aufgeführt wurden. Ich bin auf Antonia Bembo aufmerksam geworden, da ich damals in meiner Recherche von ihr gelesen hatte. Und dann haben wir in Paris das Manuskript in der Nationalbibliothek gesichtet. Heutzutage ist das natürlich alles digital, aber dennoch eine total spannende Arbeit. 

Für das Kantatenprogramm bekamen wir eine Anfrage von Suzanne Jerosme. Sie ist eine fantastische Sopranistin, die bereits mit uns gearbeitet hatte und schlug vor, ihre Debüt-CD mit uns aufzunehmen. Sie wollte Arien aus Oratorien von Alessandro Scarlatti aufnehmen. Da das Format perfekt zu unserem Kantaten-Programm passte, nahmen wir es als Herausforderung an und überlegten, wie wir die Musik von Scarlatti mit den Komponistinnen in Verbindung bringen könnten. Und so haben wir recherchiert, welche Komponistinnen es zur gleichen Zeit von Scarlatti gab, die in einem ähnlichen Stil komponierten. Und diese Komponistinnen waren in Wien zu Hause, sodass unsere Forschungen in der Österreichischen Nationalbibliothek weitergingen. 

nmz: Das heißt also, dass man oft durch bekanntere Namen auch auf unbekannte Komponist*innen stößt? Wie darf man sich diese Recherchearbeit genau vorstellen? 

Borràs Garriga: Es ist viel Recherche notwendig, um überhaupt auf diese Komponistinnen zu stoßen. Um dann aber von der abstrakten Kenntnis der Persönlichkeit zum Manuskript zu gelangen, steht ein sehr langer und schwieriger Prozess bevor. Mir haben dabei insbesondere die Bücher „Bibliographisches Verzeichnis der Musikerinnen in Frankreich 1643–1715“ von Markus Grassl und „Say can you deny me. A guide to surviving music by women from the 16th through the 18th centuries“ von Barbara Garvey Jackson geholfen. Das sind einfach verschiedene Listen von Werken, die Frauen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert komponiert haben. Und dort habe ich meine Recherchearbeit begonnen. Ich habe geschaut, welche Komponis­tinnen und Komponisten es damals überhaupt gab – Bekannte wie Unbekannte. Wenn man dann auf etwas gestoßen ist, findet man daneben aber auch wieder einen Namen, der interessant sein könnte. 

Und das ist der Weg. Ich habe daraufhin eine Liste gemacht und habe versucht, diese Komponistinnen weiter in den Archiven oder Digitalarchiven zu finden. Und genau dieser Prozess ist der Grund, warum die Arbeit so lange dauert. Manchmal findet man die Namen dann auch einfach nicht. Wieder ein anderes Mal hat man aber Glück und wird fündig. Ein großes Problem war, dass Frauen die Familiennamen des Mannes übernommen haben. Dadurch werden sie virtuell nicht mehr auffindbar. 

Das Problem wird zum Beispiel an der Familie Schumann ersichtlich: Wenn man beispielsweise Schumann suchen würde, muss man wissen, dass es eine Frau gab, die Clara hieß. Sonst würde man sie in den Katalogen einfach nicht finden. Hinzu kommt, dass Frauen zu der damaligen Zeit oft unter einem männlichen Pseudonym Musik veröffentlichten. Und genau aus den Gründen passiert es eben sehr oft, dass Werke verwechselt oder erst gar nicht gefunden werden. 

nmz: Warum wurden diese Manuskripte nicht schon vorher entdeckt und aufgeführt? 

Borràs Garriga: Frauen durften zwar eine musikalische Ausbildung genießen, allerdings war es von der Gesellschaft nicht vorgesehen, dass sie die Musik beruflich ausübten. Deswegen waren viele Frauen musikalisch sehr gut ausgebildet, aber waren nicht als Musikerinnen tätig. Dadurch konnten sie ihre Musik einfach nicht veröffentlichen. Wir müssen die Musik daher an Orten suchen, wo sie die Freiheit hatten, in einer privaten Sphäre Musik machen zu können. Und das war insbesondere an Höfen oder in Klös­tern möglich. 

nmz: Warum sollte diese unbekannte Barockmusik hörbar gemacht werden? 

Borràs Garriga: Heutzutage kennt jeder Scarlatti, aber neben seiner Musik gab es so viel mehr, das heutzutage nicht mehr bekannt ist – aus unterschiedlichen Gründen. Das liegt an der jahrhundertelangen Verbreitung des Kanons. Mir ist Folgendes wichtig: Was hören wir und warum hören wir das? Wir hören ganz oft Musik, weil sie schon immer gespielt wurde und weil sie wohl gut ist. Auch wenn dieses Argument legitim ist, denke ich, dass wir die Verantwortung haben, einen kritischen Blick darauf zu werfen, wie und warum dieser Kanon etabliert wurde. Oft wurde Musik nicht wegen mangelnder Qualität nicht aufgeführt, sondern rein aus politischen Gründen. Bei der Erstellung des Kanons haben wir so viel verpasst. Was für eine fantastische Zeit ist es jetzt, zurückzublicken und all dieses Erbe wiederzuerlangen. Und deshalb ist es wichtig, dass diese Musik nun hörbar gemacht wird.

nmz: Sind mit diesem Konzertprogramm nun auch CD-Aufnahmen geplant?

Borràs Garriga: Wir hatten das Glück, dass wir die beiden Programme über Barockkomponistinnen aufnehmen konnten. Die Oper „L’Ercole Amante“ von Antonia Bembo wurde in den SWR-Studios aufgenommen und wird 2025 als erste Aufnahme dieses Werks veröffentlicht. Das Programm mit Arien aus den Oratorien von Alessandro Scarlatti und Erstaufnahmen von Camilla de Rossi und Maria Margherita Grimani wird im Sommer 2024 in einer Reihe von Konzerten präsentiert und als CD beim Label Aparté veröffentlicht.

  • Interview: Valeska Maria Müller

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