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Auf der Suche nach der schönen Dissonanz

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Der Komponist Jürg Baur · Ein Porträt von Egbert Hiller
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„ Ich war nie Avantgardist“, ließ sich Jürg Baur einst von dem Musikkritiker Hanspeter Krellmann zitieren – ein Ausspruch, der ihm bis heute nachhängt und der einer unvoreingenommenen Auseinandersetzung mit seinen Werken oftmals hinderlich war. Dabei trat der 1918 in Düsseldorf geborene Komponist – seit seinen Anfängen in den 1930er-Jahren mit Bartók und Hindemith als frühen Anknüpfungspunkten – stets in Dialog mit den jeweils aktuellen Strömungen der zeitgenössischen Musik. Elemente der Zwölftontechnik, serielle Strukturen und Aleatorik berücksichtigt(e) er jedoch erst nach kritischer Hinterfragung und geistiger Durchdringung.

Zentrales Merkmal seiner künstlerischen Entwicklung ist die individuelle Entfaltung jenseits einer bestimmten Schule; und dies spiegelt sich im Spannungsverhältnis zwischen dem Insistieren auf das subjektive Ausdrucksbedürfnis einerseits und komplexer Organisation des Tonsatzes mit stark kontrapunktisch geprägter Durchbildung andererseits wider. Markant offenbarte sich diese Grundkonstellation bereits in dem 1960 in Rom entstandenen „Concerto romano“ für Oboe und Orchester. Und der latente „italienische“ Einfluss mochte sich in von klangfarblicher Dichte und Intensität gespeisten sinnlich-schwelgerischen Sphären niederschlagen. Diese finden ihr Ventil zumal im Solopart, dessen – trotz Einbindung in punktuelle und serielle Organisationsformen – virtuos-musikantischer Einschlag aufreizenden Charme versprüht. Baur selbst beschreibt den Kopfsatz („Mosaik“) als „ein straff geordnetes System verschiedener Kolorite, Motive und Linien, den Ornamenten der römischen Kosmaten-Fußböden vergleichbar.“ Die Oboe nimmt in diesem Klangkosmos die Rolle eines Fantasiewesens ein, das auf den Leuchtfeldern des imaginären „Mosaiks“ zum bizarren Tanz auftritt.

Paradigmatisch zeigt sich im „Concerto romano“, dass satztechnische Prozesse für Baur niemals Selbstzweck, sondern dem persönlichen Tonfall untergeordnet sind. Im Gegenzug bannen und objektivieren sie jedoch den emotionalen Gehalt in einem konstruktiven Gerüst: „Es geht mir eigentlich immer wieder darum, die menschlichen Bezüge nicht zu verlieren. Für mich ist es oberstes Gesetz, nur das zu schreiben, was man hört, also nicht den strikten Ablauf von Reihen oder Strukturen einzuhalten, sondern diese so zu verändern, dass sie den Hörer noch erreichen. Auch im dissonanten Umfeld strebe ich nach Schönheit. Das ist eine grundsätzliche Entscheidung: Ich bin auf der Suche nach der schönen Dissonanz.“

Gleichwohl begreift Baur Komponieren uneingeschränkt als „intellektuell anspruchsvollen Vorgang auf der Grundlage handwerklicher Fähigkeiten.“ Fast schon anekdotischen Charakter trägt da eine Begebenheit, die ihm in seiner Eigenschaft als Prüfer in der Kommission zum Komponistendiplom an der Kölner Musikhochschule widerfuhr: „Da war jemand mit dem Tonband von der Hochschule zum Melatenfriedhof und zurück gegangen und legte nun den ‚Live-Mitschnitt‘ dieses Spaziergangs als Komposition vor“, so Baur, der für derlei „Experimente“ kein Verständnis aufbrachte. Wie immer man zu seiner – als „altmeisterlich“ apostrophierten – Einschätzung stehen mag, als Lehrer (1965 wurde er Direktor des Robert-Schumann-Konservatoriums in Düsseldorf, von 1971–90 leitete er an der Kölner Musikhochschule eine Kompositionsklasse) war er sehr geschätzt. Nicht nur, dass er von seinen zahlreichen Schülern, zu denen etwa Thomas Blomenkamp und Martin Herchenröder zählen, ein fundamentales Studium der Musikgeschichte einforderte, er leitete sie vor allem an, unabhängig von ästhetischen Diktaten eigene Wege einzuschlagen. Darin sieht er sich ganz in der Nachfolge seines eigenen Lehrers Philipp Jarnach (1892–1982), der ihn anhielt, mit künstlerischer Disziplin „überkommene Grenzen organisch auszudehnen“.

So wurde die Auseinandersetzung mit der Tradition für Baurs Schaffen kennzeichnend. Während für das seriell organisierte „Quintetto sereno“ von 1958 die „Begegnung mit Anton Webern“ im Vordergrund stand, war für das Streichtrio „Kontraste“ von 1964 die tradierte viersätzige Form der Ausgangspunkt. Baur füllte sie mit neuem Leben, indem er die Satzcharaktere zuspitzte und in eigenwillige, auch an spirituelle Dimensionen gemahnende Klangbilder umdeutete.

Seit den 1970er-Jahren macht er seine klingenden Reflexionen über die Musikgeschichte verstärkt an einzelnen Komponisten fest, etwa in der Orchestersuite „Musik mit Robert Schumann“ (1972), den „Sinfonischen Metamorphosen über Gesualdo“ (1981) oder den „Frammenti-Erinnerungen an Franz Schubert“ für Orchester (1995/96). Mit diesen Auftragswerken errang Baur seine größten Erfolge; nichtsdestotrotz handelt es sich uneingeschränkt um „Bekenntnismusik“, wie er anhand der „Sinfonischen Metamorphosen“ darlegt: „Bekenntnis zu Gesualdo, ein Mensch von übertriebener Sensibilität und wilder ekstatischer Heftigkeit. Seine Kunst und sein Leben standen unter dem Gesetz der inneren Zerrissenheit, zwischen Auflehnung und Resignation, zwischen Zartheit und Leidenschaft. Davon will meine Musik etwas aussagen.“

Sind die Aktivitäten von Jürg Baur, der im November 2008 sein 90. Lebensjahr vollenden wird, in letzter Zeit zumal auf Überarbeitung älterer Kompositionen gerichtet, so gelang es ihm vor kurzem dennoch, eine schmerzhafte Lücke in seinem umfangreichen Oeuvre zu schließen. „Baurs Schaffen umfasst so gut wie alle Gattungen außer der Oper“, heißt es in der neuen MGG über ihn – eine Aussage, die mit der im November 2005 erfolgten Uraufführung von „Der Roman mit dem Kontrabass“ nach Anton Tschechow überholt ist. Und Baur ist sich auch in dieser Oper treu geblieben. Mit stilistischer Vielfalt bei gleichzeitiger strenger formaler Bindung sowie einer Fülle von Zitaten und Anspielungen erfüllt „Der Roman mit dem Kontrabass“ zudem die Ansprüche eines „Alterswerks“, das „auf der Suche nach der schönen Dissonanz“ die kompositorischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts Revue passieren lässt.

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