„So also fand ich die Vorzeit, in mühsamer Untersuchung.“ – Zurückgehen, hartnäckig sein, sich nicht abwimmeln lassen: Tugenden, die für jede Spurensuche nötig sind. Umso mehr, wenn es um Großes geht wie bei diesem Kunstaufbruch der „Budeltjanins“, der „Zukünftler“ wie sie sich selber nannten; nicht viel später ausgelöscht von stalinistischer Reaktion, verschüttet von der Renegaten-Panik sowjetischer Kulturbürokratie.
Wer den jetzt so prächtig dastehenden Cybele-Schober über die Jahre hat wachsen sehen, musste mit jeder weiteren Teilveröffentlichung das Gefühl haben: auch hier sind Vorzeitforscher im Spiel. Nur anders als ein Thukydides, der seine Karten schon in der Einleitung auf den Tisch legt, hat man sich dies in dieser Edition, dank starkem Sinn für dramaturgische Spannungsbögen, für den Schluss aufgespart. Dann aber wurde der Schleier doch gelüftet. Womit hier beileibe nicht nur das Gravitationszentrum „Siebte Sonate“ von Alexander Skrjabin gemeint ist, die auf Vol. 4 von den Umlaufbahnen einiger mehr oder weniger bekannter skrjabinistischer Trabanten – Nikolaj Roslavets, Nikolaj Obuchov, Igor Strawinsky – noch einmal auf das futuristische Zentralgestirn zurückblickte.
Soviel nämlich muss man wissen: Als Thomas Günther in einem seiner allerersten Klavierabende bei den Berliner Festwochen 1983 neben einem Skrjabin-Schwerpunkt auch so unbekannte Musik wie die „Etude sur le Carré magique sonore“ von Ivan Wyschnegradsky, dazu die Sonaten zwei und drei von Sergej Protopopov öffentlich gemacht hatte, stand dort noch ein Studierender auf dem Podium. Auch von daher also viel Vorzeit im Spiel. Bliebe die Frage, wie ein junger Essener Folkwang-Student überhaupt ein solches Programm hatte schultern können? Auf welchen Schultern stand er? Protopopov nämlich war ihm anfangs selber entschieden dunkle Materie. Bei der Vorstellung der Edition in der Essener Proust-Buchhandlung gab der heutige Folkwang Klavier-Professor die hübsche Anekdote zum Besten, wie er den Namen aus dem Mund seines Informanten zum ersten Mal gehört hatte. „Der meint bestimmt Prokofjew!“, dachte er bei sich.
Vorzeitforscher
Durchaus nicht. „Skrjabin, die Skrjabinisten und Thomas Günther“, der einleitende Essay von Juan Allende-Blin auf Vol. 4 lüftet das Geheimnis, Schritt für Schritt. Da ist die Not des Kurators, fürs Festwochen-Konzert ’83 einen Pianisten zu finden, da ist der Fingerzeig Gerd Zachers auf den jungen Thomas Günther und da ist schließlich der Skrjabin/Skrjabinisten-Elan, der in Allende-Blins französisch-spanischem Musiker-Elternhaus in Santiago de Chile seinen Anfang genommen hatte. Näheres dazu findet sich übrigens auch auf „Juan Allende-Blin und das Ensemble“, einem weiteren, Gespräch und Musik verbindenden CD-Projekt des innovativen Labels Cybele.
Auch dies nämlich gehört ins Mosaik einer Budeltjanin-Vorzeitforschung. Indem der angehende Musiker Juan Allende-Blin die von einem Dritten Reich vertriebenen Exilanten in seinem Elternhaus kennenlernt, steht ihm die Verbindung aus künstlerischer Exzellenz und eigenwilliger Persönlichkeit leibhaftig vor Augen und Ohren. Womit sich jenes Verständnis für die von der Konvention abweichende Unschärfe bildet, die in den frühen und mittleren Jahren der Bundesrepublik so noch kaum jemand zu Gebote stand. Daher das leidenschaftliche Interesse des Komponisten für verschüttete Quellen, gepaart mit der Fähigkeit, die letzten Zeugen eines Kunst- und Künstleraufbruchs ins Gespräch zu ziehen. Entscheidender Angelpunkt: Juan Allende-Blins Freundschaft mit dem in Paris lebenden Ivan Wyschnegradsky. Das Sammeln der Spuren konnte beginnen.
Da war beispielsweise jener Kooperationsvertrag, den der Sowjetische Musikverlag 1930 mit der Universal Edition geschlossen hatte. Also Wien. Nur, dass dort eine freundliche Archivleiterin Allende-Blin achselzuckend mitteilte: „Nein, haben wir nicht!“ Doch Beharrlichkeit siegt. „Hier schauen Sie, die alten Kataloge!“ Noch einmal begibt sich die UE-Mitarbeiterin in den Verlags-Untergrund, um dann doch mit staubbedeckten Mosolov-Partituren zurückzukehren, Grundstock für Vol. 3., die Alexander Mosolov-Sonaten 1, 2, 4 und 5; dessen verlorene dritte Sonate vertreten von zwei Mosolov-Nocturnes.
Ivan Wyschnegradsky, bekanntester unter allen unbekannten Budeltjanins, hat man, Ehre wem Ehre gebührt, gleich auf Vol. 1 platziert: „Deux Preludes“ von 1916 , „Etude sur le Carré magique sonore“ von 1957; das Ganze spiegelsymmetrisch mit der zweiten Protopopow-Sonate im Zentrum, darum der Wyschnegradsky-Rahmen und um diesen ein mächtiger Asteroiden-Gürtel aus Früh- und Spätwerken des mystisch-religiösen Nikolaj Obuchov. Wie Wyschnegradsky hatte dieser die wichtigste und längste Zeit seines Lebens in Paris verbracht, um sich dort in selbst gewählter Einsamkeit ganz in sein alle Moden durchkreuzendes, ignorierendes Werk zu vertiefen. In seinen kundigen Begleittexten spricht Mark Ziegler von „zwölftönigen Harmoniekomplexen“.
Apropos. „Begleittext“ scheint hier kaum die passende Formulierung. So nämlich wie dieses Unternehmen als Ganzes aus der Skrjabin/Skrjabinisten-Faszination Allende-Blins herausgewachsen ist, so hat Thomas Günther in dem Bonner Buchhändler und Futurismus-Kenner Ziegler irgendwann einen weiteren Vorzeitforscher aufgetan; und, um auch dies nicht unerwähnt zu lassen, im Musik-Redakteur Frank Kämpfer beim Kölner Deutschlandfunk einen tatkräftigen Medien-Partner dazu. Noch beim erwähnten Präsentationstermin schwärmte Günther nicht nur von der Begeisterung, mit der der Sender sein Projekt aufgegriffen habe, sondern auch von einem wunderbaren Instrument, das ihm hier über die Jahre zur Verfügung stand.
Formen in der Luft
Weshalb es sich Cybele-Chef Ingo Schmidt-Lucas denn auch nicht nehmen ließ, um dieses Juwel von einem Steinway D ein prächtiges SACD-Klangbild zu installieren. Wer immer schon überlegt hat, seine Anlage nachzurüsten – hier böte sich nun die Gelegenheit. Womit wir schlussendlich zu Vol. 2 kommen, worin sich Thomas Günther bis auf eine weitere Protopopow-Sonate, ganz in die Tondichtungen des Arthur Vincent Lourié vertieft. Ein Name, der in den letzten Jahren unter Kennern wie Liebhabern der frühen russischen Klaviermusik durchaus gehandelt wurde und wird. Lourié, aus einem wohlhabenden jüdisch-sephardischen Elternhaus kommend, hatte sich sehr früh futuristisch exponiert, die Vornamen Schopenhauers und Van Goghs adaptiert, zugleich die Differenz zum italienischen Futurismus klargestellt. Maschinenanbeterei, Akkomodation an den Alltag ist nichts, was uns Budeltjanins vorschwebt! Obwohl derselbe Lourié nach der Oktoberrevolution sogar noch als „Musikkommissar“ tätig sein wird, in seinen Anfängen träumt er eine ganz reine Kunst. 1908, als 16-jähriger, noch vor dem Beginn seines Klavier- und Kompositionsstudiums, fängt er an, diese Traummusik aufzuschreiben.
Thomas Günther spielt sie wunderschön, mit allen geheimen Orchesterfarben, die man diesem anfänglich noch debussystisch inspirierten Klaviersatz abhören kann. Mit jeder „neuen Arbeit indes entdeckt Lourié Neues. Mit seinen Picasso gewidmeten „Formes en l’air“ kreiert er dann sogar die graphische Notation mit in bis zu fünf Systemen aufgefächerten Registern. Das Spiel mit Valeurs, Dynamik-, Tempoverhältnissen hält diese Musik in eigentümlicher Schwebe. Zukünftler-Kunst, die jede Zukunft vor sich hat.
Diskografie
Klavierwerke um den russischen Futurismus
Thomas Günther, Klavier, Cybele Records
Vol 1: Nikolaj Obuchov, Ivan Wyschnegradsky, Sergej Protopopov. SACD 160404
Vol. 2: Arthur Lourié, Sergej Protopopov. SACD 161402
Vol: 3 Alexander Mosolow. SACD 161403
Vol. 4: Nikolaj Roslavets, Sergej Protopopovs, Igor Strawinsky, Alexander Skrjabin. SACD 161404