80 Jahre sind nun vergangen, seit Margit Varró ihr Buch „Der lebendige Klavierunterricht – seine Methodik und Psychologie“ fertig stellte und im September 1929 das fertige Buch der Öffentlichkeit übergab (1). Schon damals sind ihre pädagogischen Ideen der Zeit voraus, und folgt man den vielen Rezensenten in Europa und den USA, gehört es schon damals zu den besten Büchern für den Pädagogen.
Margit Varró wird am 22. Oktober 1881 als Margit Picker in Barcs (2) geboren, damals eines der wichtigsten Handelszentren Südungarns an der Drava (Drau), der heutigen Grenze zu Kroatien. Als Tochter eines jüdischen Getreidefachmanns und -händlers bekommt sie schon früh eine gute, umfangreiche und vielseitige Ausbildung. Dazu gehören, wie im damaligen Ungarn üblich, schon in der Grundschule Deutsch und Ungarisch sowie später im Gymnasium Latein, Französisch und Englisch, sodass Margit Varró dann zusammen mit dem später erlernten Italienisch fünf Sprachen (3) flüssig spricht und so ihre Veröffentlichungen, wie auch das Buch „Der lebendige Klavierunterricht“, in der Originalsprache schreiben kann.
1900 wird sie in Budapest in die dritte Vorbereitungsklasse für die k.u.k. ungarische Musikakademie (heutige Franz Liszt Akademie) unter dem Liszt-Schüler Árpád Szendy (4) aufgenommen und schließt 1907 Klavier und Klavierpädagogik mit besten Noten ab.
Nach dem Studium folgen für Margit Varró 1907–1908 Lehrtätigkeit an der Fodor-Musikschule und auch private Unterrichtstätigkeit. Gleichzeitig tritt sie in den Jahren 1907–1913 verstärkt in Konzerten in Ungarn, Österreich und Deutschland auf und gibt Lehrerfortbildungskurse, bis sie dann 1918–1920 als erste Frau zur Dozentin an der staatlichen ungarischen Musikakademie (heutige Franz Liszt Akademie) ernannt wird, die damals von Ernö Dohnányi als Direktor und Zoltán Kodály als Vizedirektor geleitet wird. Sie ist dort zunächst verantwortlich für die Lehrproben, bevor sie dann auch die Leitung der Übungsschule übernimmt. So sind Béla Bartók, Zoltán Kodály, Ernö Dohnányi, Sándor Reschofsky, Léo Weiner und Margit Varró in dieser Zeit Kollegen. Neben der Lehrtätigkeit und Konzerten beginnt Margit Varró Beiträge in Deutsch und Ungarisch zu pädagogischen Themen zu veröffentlichen. Ihr erster Artikel „Bach J.S.“ erscheint im Jahrbuch der Fodor Musikschule 1908 (5). Es erscheinen in Folge hauptsächlich kürzere Artikel zu verschiedenen Themen sowohl in Pester Lloyd, einer angesehenen deutschen Tageszeitung in Budapest, als auch in ungarischsprachigen Tageszeitungen.
Gleichzeitig entwickelt Margit Varró ihre Methode aus der praktischen Unterrichtstätigkeit heraus. Sie schreibt Protokolle ihrer Unterrichtsstunden mit Kindern und beginnt damit systematische pädagogische Untersuchungen. Technische, psychologische und physiologische Schwerpunkte dieser Untersuchungen und deren Auswertung führen dann 1921 zu ihrem ersten, in ungarischer Sprache geschriebenen Buch „Zongoratanítás és zenei nevelés“ (6) (Klavierunterricht und Musikerziehung). Dieses Buch erscheint im Zeitgeist einer musikalischen Aufbruchsstimmung zu einer Zeit, in der wahrlich eine Fülle an pädagogischer Fachliteratur veröffentlicht wird: Riemann, Hugo: „System der musikalischen Rhythmik und Metrik“, Leipzig 1903; Matthey, T.: „The Act of Touch“, London 1909; Breithaupt, Rudolf Maria: „Die natürliche Klaviertechnik“, Leipzig 1904; Caland, Elisabeth: „Die Ausnützung der Kraftquellen im Klavierspiel“, Stuttgart 1905; und später: Schmidt-Maritz, Frieda: „Musikerziehung durch den Klavierunterricht“, Berlin 1925; Loebenstein, Frieda: „Der erste Klavierunterricht“, Berlin-Lichterfelde 1927, Martienssen, Carl Adolf: „Die individuelle Klaviertechnik“, Leipzig 1930, als nur einige wenige Beispiele. In ihrem direkten Umfeld in Budapest entwickelt sich zudem ein professioneller Austausch zwischen unterschiedlichen Ansätzen und Disziplinen wie Psychologie, Musikermedizin und Pädagogik. Musikpädagogische Themen werden in verschiedenen Fachvereinen disziplinübergreifend diskutiert und führen zu neuen ganzheitlichen pädagogischen Ansätzen: Sándor Kovács arbeitet im psychologischen Bereich, Ernö Dohnányi bringt aus Deutschland ein neues nationales Curriculum mit. Béla Bartók als Komponist, Zoltán Kodály als Komponist und Schulmusiker, der das Singen favorisiert, und Sándor Reschofsky als Komponist und Pädagoge entwickeln gemeinsam und auch jeder für sich pädagogische Methoden und Lehrwerke für den Instrumentalunterricht. Der rege Austausch der Pädagogen untereinander bringt dem Buch „Zongoratanítás és zenei nevelés“, obwohl auf ungarisch, auch über die Grenzen Ungarns hinaus in der Presse lobende Erwähnung. Dies führt wohl dazu, dass Margit Varró 1926 bereits auf Englisch in den USA publiziert und im gleichen Jahr auch in der Allgemeinen Zeitung für Musik in zwei Folgen einen langen Artikel „Grundlagen des Musikunterrichts I und II“ (7) veröffentlicht, in dem sie schreibt: „Dieser Artikel bietet eine kurze Übersicht über einige der wichtigsten Grundsätze, die in dem 1921 in Budapest bei Rózsavölgyi in ungarischer Sprache erschienenen Buche der Verfasserin: ,Klavierunterricht und musikalische Erziehung‘ niedergelegt sind – Die deutsche Ausgabe ist in Vorbereitung“ (8).
In den folgenden Jahren übersetzt sie „Zongoratanítás és zenei nevelés“ selbst ins Deutsche, überarbeitet es stark und erweitert es besonders im dritten, psychologischen Teil. So entsteht 1929 ihre wichtigste Veröffentlichung: „Der lebendige Klavierunterricht – seine Methodik und Psychologie“, die von Bartók, aber auch von anderen Zeitgenossen wie Rudolph Maria Breithaupt, Prof. Dr. Erich Doflein, Prof. Wilhelm Gebhardt (9), um nur einige zu nennen, als herausragendes Buch gewürdigt wird.
Es soll ihr für die Klavierpädagogik wichtigstes Werk bleiben, in dessen Vorwort von 1928 sie selbst das Wegweisende in diesem Buch definiert als „… durch innige Verbindung des Musikalischen, Technischen und Psychologischen die Brücke zu schlagen von den wohl erkannten Zielen des Klavierunterrichts in die pädagogische Praxis“ (10). Margit Varró arbeitet in ihrem Buch auch heute noch aktuelle Themen wie „Erziehung des musikalischen Sinnes“, „Methodik des Anfängerunterrichts“, „Analyse von Spielstörungen“, „Lampenfieber“, „Gruppenunterricht“, „Improvisation“, „Kinderkompositionen“ und vieles mehr systematisch auf und setzt sie gut verständlich und teilweise mit Beispielen in Praxisbezug.
Sie plädiert grundsätzlich dafür, der Klavierlehrer möge ein – möglichst großes – pädagogisches Basiswissen individuell auf den Schüler anwenden und ihm nicht eine immer gleiche Methode überstülpen. Ihrer Zeit – und vielleicht sogar so manchem heutigen Klavierpädagogen – ist sie damit weit voraus. Auch heute noch besitzt sie mit ihren wegweisenden Ausführungen hohe Aktualität und, sieht man von dem Kapitel „Klaviertechnik“ ab und transferiert die pianistischen Beispiele, so kann der „Der lebendige Klavierunterricht“ auch für jeden Instrumentalpädagogen ein lebendiges und nützliches Werk sein. Ohne jeden Zweifel folgen zahlreiche (auch bekannte) musikpädagogische Autoren unserer Zeit dem bereits von ihr gebahnten Weg. Daher ist es nur konsequent, dass „Der lebendige Klavierunterricht“, der in der vierten, revidierten Auflage mit Literaturanhang von 1958 noch erhältlich ist, auch heute noch zur Grundlagenliteratur für die klaviermethodische Ausbildung an Musikhochschulen, Konservatorien und Akademien zählt – zu Recht!
Anmerkungen
1 Varró, Margit (1929): Der lebendige Klavierunterricht. Seine Methodik und Psychologie. Leipzig: Simrock (Elite Edition, 578).
2 Alle biografischen Daten stamen aus: Frey-Samlowski, Ruth-Iris (2002): Margit Varró. In: Helms, Siegmund; Schneider, Reinhard; Weber, Rudolf (Hg.): Neues Lexikon der Musikpädagogik. Kassel: Bosse, Personenteil, S. CD-ROM.
3 Veszprémi, Lili; Máthé, Miklosné (1980): Varró Margit – Tanulmányok, Elöadások, Visszaemlékazések. Budapest: Zenemükiadó.
4 1863–1922, Pianist, Komponist, Pädagoge, lernte bei Liszt und Koeßler.
5 Varró Margit, „Bach J.S.“ In: Fodor Zeneiskolaévkönyve , 1908, p. 5–14.
6 Varró Margit, „Zongoratanítás és zenei nevelés“, Rozsavölgyi és Társa, Budapest, 1921, 248p.
7 Varró Margit, „Grundlagen des Musikunterrichts I und II“, In: „Allgemeine Zeitung für Musik“, 53. Jhrg., No 24 p. 523ff und 25p. 543ff, Berlin, 1968 Ebda.
9 Werbeblatt vom Simrock Verlag zur 2. Auflage von „Der lebendige Klavierunterricht – seine Methodik und Psychologie“, Simrock, Berlin-Leipzig, 1929.
10 Werbeblatt vom Simrock Verlag zur 2. Auflage von „Der lebendige Klavierunterricht – seine Methodik und Psychologie“, Simrock, Berlin-Leipzig, 1929.