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Gemälde Charles Burneys von Joshua Reynolds. Quelle: Public domain, via Wikimedia Commons
Gemälde Charles Burneys von Joshua Reynolds. Quelle: Public domain, via Wikimedia Commons
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Charles Burneys Deutschlandreise

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Wie ein englischer Gelehrter die deutsche Musikwelt vor 250 Jahren erlebte · Von Hans-Jürgen Schaal
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Nachdem er sich von der hohen Gesangskunst in Italien selbst überzeugt hatte, freute sich Charles Burney auf die hohe Instrumentalkunst in Deutschland. Doch sein Fazit lautete: Die besten deutschen Instrumentenbauer und Instrumentalisten wirken offenbar im Ausland. Vor 250 Jahren erschien sein Reisebericht (1773).

Von Juli bis Oktober 1772 reiste der englische Musiker und Gelehrte Charles Burney (1726–1814) durch Deutschland und Österreich, um aus erster Hand über das hiesige Musikleben berichten zu können. Damit sich ihm die nötigen Türen öffneten, hatte er eine Reihe von Empfehlungsschreiben dabei – Briefe aus England für die britischen Diplomaten in den deutschen Fürstentümern, aber auch Briefe von italienischen Musikern für Musiker in Deutschland. Der beste Türöffner wäre das Buch gewesen, das er im Vorjahr über seine Recherche-Reise durch Frankreich und Italien geschrieben hatte, doch leider war die deutsche Übersetzung noch nicht fertig. Daher tat sich Burney anfangs in Deutschland schwer, zumal er (anders als bei seiner vorigen Reise) die Sprache nicht beherrschte. Der Erste, der sein Anliegen ernst und wichtig nahm, war Christian Friedrich Daniel Schubart in Ludwigsburg – jener Schubart, der später für zehn Jahre auf dem Hohenasperg eingekerkert war und dann zum herzoglichen Theaterdirektor ernannt werden sollte und dessen Gedicht „Die Forelle“ durch Franz Schubert weltberühmt wurde. Da Schubart nicht Englisch, Italienisch oder Französisch konnte, sprach er mit Burney Lateinisch.

Musik der Paläste und Theater

Die ökonomische Lage in Deutschland war damals nicht günstig für die Musikpflege. Auch die Fürsten kürzten die Musikausgaben – dennoch stand es in deren Hauptstädten noch am bes­ten. „Die schönen Künste sind Kinder des Überflusses und des Wohllebens“, befindet Burney.

„Wer in Deutschland Musik suchen will, sollte an die verschiedenen Höfe gehen, nicht nach den freien Reichsstädten.“ Köln, Frankfurt, Augsburg oder Bremen konnten Burney daher wenig bieten. An den Höfen jedoch traf er vielfach kunstsinnige Fürsten und Adlige, die sogar selbst musizierten. Der Kurfürst in Mannheim war ein guter Flötist und Cellospieler, der Herzog von Württemberg Cembalist, der bayerische Kurfürst spielte die Violine und Gambe, der Kaiser in Wien Cello und Klavier, der preußische König die Querflöte. Auch der sächsische Kurfürst soll ein guter Pianist gewesen sein, scheute jedoch Zuhörer. Wenn der Hof im Sommer „verreist“ war, verödeten aber auch die Hauptstädte der Fürstentümer. Musikalische Hauptsaison in Deutschland war der Winter und speziell die Karnevalszeit. So lange konnte Charles Burney allerdings nicht warten.

Die Musik an den deutschen Höfen und Theatern stand noch immer stark unter dem Einfluss der italienischen Oper – Burney spricht von einer „verderbten und italianisierten Melodie“. Viele der Sängerinnen, Sänger und Instrumentalisten in Deutschland kamen aus Italien.

Sie wurden heftig umschmeichelt und überhöht bezahlt. Auch die Opern der deutschen Komponisten waren in der Regel auf Italienisch, worüber sich Burney wundert – findet er doch die deutsche Sprache (nach der italienischen) am besten für Gesang geeignet. Auf seiner Reise hörte er in Schwetzingen „La contadina in corte“ (Sacchini), in München „L’amore senza malizia“ (Ottani), „Le finge gemelli“ (Rauzzini) und „La sposa fedele“ (Guglielmi), in Wien „Il barone“ (Salieri) und „I rovinetti“ (Gassmann), in Dresden „L’amore innocente“ (Salieri), in Leipzig „Le déserteur“ (Moncigny, auf Deutsch), in Berlin „Le cadi dupé“ (Gluck, auf Französisch). Nichts davon konnte ihn wirklich begeistern. In Dresden war die große Oper geschlossen worden (1755 waren dort noch 21 teils berühmte Sänger engagiert gewesen). Auch in Prag und Hamburg wurden offenbar keine Opern mehr gegeben.

Musik der Hütten und Kirchen

Burney interessierte sich aber nicht nur für die Hof- und Opernmusik, sondern ebenso für die eigentliche deutsche Volksmusik in den „Hütten und Dachkammern“. Besonders bemerkenswert fand er, dass die einfachen Leute auf der Straße drei- und vierstimmig zu singen verstehen. Er vermutete dahinter den starken Einfluss der Kirchenmusik und speziell der Jesuitenkonvente, in denen die „Armenschüler“ (Singschüler, Currentschüler) Musikunterricht erhielten. Mehrfach stellte er fest, dass auch an einfachen Volksschulen (in Böhmen, Dresden, Neukölln) das Singen gelehrt wird. Verschiedentlich hörte er auch Gassen- und Wirtshaus-Musikanten, deren Blasinstrumente ihm aber arg verstimmt vorkamen. Die Militärmusik in Mannheim, Ludwigsburg und Potsdam machte wenig Eindruck auf ihn; die schönste „Kriegsmusik“ hörte er in Darmstadt – mit vier Oboen, vier Klarinetten, sechs Trompeten et cetera. Vom Gemeindegesang in den Kirchen berichtet er sehr Unterschiedliches. Zumal wenn keine Orgel oder nur eine schlecht gestimmte Orgel dazu spielte, klang es für Burney „jämmerlich“ und „unleidlich“.  

In allen Städten führte ihn sein Weg auch in die Bibliotheken und zu den Kirchenorgeln, die er sich vorführen ließ und teils auch inspizieren und selbst spielen durfte. (In katholischen Kirchen war es oft schwierig, zwischen den vielen Messen dafür einen Zeitpunkt zu finden.) Aus England war Burney feine, registerarme Orgeln gewohnt, die für die Akustik kleinerer Kirchenräume ausgelegt sind. Die deutschen Orgeln erschienen ihm dagegen vor allem groß, laut, überladen, mächtig, nicht klangschön und in der Regel sehr verstimmt. Er vermisst an ihnen auch den „Schweller“ (für die Dynamik), den man offenbar in Deutschland noch gar nicht kannte. Als äußerlich prächtig beschreibt er etwa die Orgeln im Kölner Dom, in der Dresdner Frauen- und Schlosskirche und in der Berliner Peterskirche (deren Orgel noch dreimal größer geplant gewesen war). Kurios: die Orgel der Berliner Garnisonkirche mit ihren Verzierungen, Engeln, Pauken, Zimbeln. Die Hildebrandt-Orgel in der Hamburger Michaeliskirche mit ihren 64 Registern – das Vermächtnis des 1764 verstorbenen Johann Mattheson – hielt Burney für die damals größte Orgel Europas.

Mannheim und München

Mannheim ist 1772 ein gutes Pflaster für die Musik – dank dem Kurfürsten Karl Theodor und der Stamitz-Schule. Das Opernhaus dort soll bis zu 5.000 Besucher fassen. Nun im Sommer weilt der Hof allerdings in Schwetzingen – mit einem Tross von rund 1.500 Menschen. Obwohl nur ein Abklatsch von Mannheim, hat das kurfürstliche Theater in Schwetzingen, so meint Burney, mehr Komparsen als ein Theater in London oder Paris. Die Konzertmeister sind Cannabich und Toeschi, die Kapelle umfasst fast 100 Mitglieder – Schwetzingen wirkt auf Burney wie eine Musikerkolonie. Den von Stamitz begründeten Sinfonienstil der Mannheimer Schule lobt er in höchsten Tönen, die Hofkapelle hält er für extrem diszipliniert und „außerordentlich“. „Es sind mehr Solospieler und gute Komponisten in diesem Orchester als vielleicht in irgendeinem in Europa.“ Allerdings entdeckt er Intonationsschwächen bei den Holzbläsern.

Äußerst wohl fühlt sich Burney in der „italianisierten“ Opernstadt München, wo sich alle um ihn bemühen – sein Ruf scheint ihm inzwischen vorausgeeilt zu sein. Gaetano Guadagni und Regina Mingotti, zwei berühmte Opernstars, die er schon aus Italien kennt, widmen ihm viel Zeit. Die Mingotti organisiert mehrere Privatkonzerte extra für Burney – mit diversen Sängern und Virtuosen, darunter zwei Tartini-Schülern an ihren Geigen. Der Hof weilt indessen im Lustschloss in Nymphenburg, wo der Kurfürst jeden Abend ein Privatkonzert mit den bes­ten Hofmusikern veranstaltet. Burney hört dort unter anderem Sinfonien von Friedrich Schwindl sowie Arien der verwitweten Kurfürstin von Sachsen (Maria Antonia von Bayern), die sie persönlich vorträgt. Der Kurfürst (Maximilian III. Joseph) beklagt, dass sein selbst komponiertes „Stabat Mater“ unerlaubt gedruckt wurde – um das zu stoppen, hat er die Druckplatten aufgekauft.

In der Kaiserstadt Wien

Von München nach Wien reist Burney nicht mit der Pferdekutsche, sondern mit dem Floß – auf Isar und Donau. In der Kaiserstadt, die angeblich selten von Engländern besucht wurde, ist er ganz in seinem Element. Teils mehrfach trifft er die Komponisten Hasse, Gluck, Wagenseil, Gassmann und Wanhall. Der 73-jährige Hasse ist für ihn unter allen lebenden Komponisten „der natürlichste, eleganteste und einsichtsvollste“ – er nennt ihn seinen „Magnus Apollo“. Hasse, rund 20 Jahre vorher der „Opern-General“ von Dresden, und seine Frau, die berühmte Faustina, geb. Bordoni, behandeln den Gast überaus freundlich. Dagegen gilt der 58-jährige Gluck als „ein ebenso fürchterlicher Mann, als Händel zu sein pflegte“. Um elf Uhr liegt er noch im Bett „wie ein wahres großes Genie“. Doch für Burney singt und spielt Gluck (auf einem schlechten Flügel) große Teile aus seiner „Alceste“ und sogar aus seiner kommenden „Iphigenie“, von der er noch keine Note aufgeschrieben hat. Hasse und Gluck (Burney vergleicht sie mit Raffael und Michelangelo) stehen für zwei verschiedene Ausrichtungen der Oper – eine Wiener Neuauflage des Buffonistenstreits.

Besonders ergiebige Fachsimpeleien führt der Hasse-Verehrer Burney mit Hasses Librettisten, dem großen Metastasio. Dessen frühe Opernlibretti sind teilweise Dutzende (!) Male vertont worden. Der Musikkenner L’Augier veranstaltet für Burney ein Konzert, unter anderem mit Werken von Scarlatti und Haydn. Burney erlebt in Wien viele junge Gesangs- und Klaviertalente und hört auch eine alte „Davidsharfe“ ohne Pedal, worüber er sich wundert. Wagenseil spielt für ihn feurig das Klavier, Gassmann zeigt seine experimentellen Kompositionen. Johann Baptist Wanhall, der früher wild und psychisch unausgeglichen gewesen sei, ist nach Burneys Eindruck nun geheilt – und zugleich musikalisch langweilig geworden. Er lernt auch die Sängerin, Pianistin und Komponistin Marianna von Martines kennen („die vollkommenste Sängerin, die ich jemals gehört hatte“) und einen sehr eigenwilligen Gitarrenspieler, den Abate Costa aus Portugal.

Beim preußischen König

Über Prag, Dresden und Leipzig reist Burney nach Berlin. Er hält sie für die Stadt, in der die meisten theoretischen und Streit-Schriften zur Musik erschienen sind. Das Berliner Musikleben steht allerdings ganz im Zeichen des preußischen Königs und folgt dabei einer fast militärischen Ordnung. Friedrich II. liebt die Querflöte und hasst Kirchenmusik. Fast alle Berliner Komponisten – Graun, Quantz, Agricola, die Benda-Brüder – fügen sich seinem Geschmack, der im Jahr 1730 stehen geblieben zu sein scheint. Wenn der König in der Karnevalszeit in Berlin ist, gibt es jeden Tag Konzert oder italienische Oper – nach festem Wochenplan. Aufgeführt werden ausschließlich Opern von Graun (dem älteren, verstorbenen Bruder), Agricola oder Hasse. Der König trägt die Kos­ten, die Karten fürs Parterre sind gratis, Beginn ist 18 Uhr. Angeblich steht der König dann hinterm Kapellmeis­ter und kontrolliert ihn – auch in der Musik der oberste Feldherr. Das Jahr über residiert Friedrich aber in Potsdam, wo Burney einen Auftritt von ihm erlebt. Quantz hat speziell für den König 300 Flötenkonzerte geschrieben, die er alle nicht veröffentlichen darf. Friedrich spielt sie der Reihe nach, drei pro Abend, ebenso die 300 Flötensoli, von denen 100 vom König selbst stammen. Quantz darf am Anfang den Takt vorgeben und am Ende „Bravo!“ rufen. Obwohl dem König ein wenig die Luft für die Kadenzen fehlt (er ist 60), ist Burney von seinem Flötenspiel angetan. „Seine Embouchure war klar und eben, seine Finger brillant und sein Geschmack rein und ungekünstelt; ich war sehr erfreut und sogar erstaunt.“ Kein Wunder, dass Carl Philipp Emanuel Bach wenige Jahre vorher den Dienst beim preußischen König quittiert hat. Der Bach-Sohn gilt zu dieser Zeit als „der große Bach“. Er ist der Protagonist der Empfindsamkeit, der Melodie, der Dynamik, während sein strenger Vater bereits zu einer früheren Epoche gerechnet wird.

Burneys Besuch in Hamburg gilt zuerst und vor allem C.P.E. Bach, der darauf besteht, Burney einen ganzen Tag für sich zu haben. Zu Hause spielt er dem Gast auf seinem Silbermann-Klavier vor, und zwar mit Gefühl und offenbarem Entzücken. Für Burney ist er der größte Klavierkomponist und der beste Ausdrucksspieler – und zugleich damals Hamburgs einziger bedeutender Musiker. 

  • Die Zitate im Text folgen weitgehend der deutschen Ausgabe von 1773: Charles Burney: Tagebuch einer musikalischen Reise; Band II: Durch Flandern, die Niederlande und am Rhein bis Wien; Band III: Durch Böhmen, Sachsen, Brandenburg, Hamburg und Holland

 

 

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