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Jubilar Mathias Spahlinger. Foto: privat

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Das Politische des Ästhetischen

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Mathias Spahlingers 80. Geburtstag und eine kleine Konzerttournee
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Das Sein bestimmt das Bewusstsein – und umgekehrt. Die Wirklichkeit formt unsere Wahrnehmung – und umgekehrt. Diese dialektische Wechselbeziehung von aktivem Gestalten und passivem Gestaltet-Werden bedeutet für Mathias Spahlinger: „musik kann etwas von der wirklichkeit bewußt machen dadurch, daß sie die chiffren bewußt macht, nach denen wirklichkeit dechiffriert wird“. Das wiederum setzt voraus, dass die kulturell geprägten und meist automatisch funktionierenden Hör-, Deutungs- und Wertungsmuster kompositorisch gestört und dadurch in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden. Es gilt, Ordnungen zu setzen und zu zersetzen. Ebenso sind Musik und Politik nicht durch eindeutige Themen oder Aussagen zu verbinden, sondern durch musikalische Materialien, Strukturen, Formen und Wahrnehmungsweisen, die von sich aus „politische Implikationen“ entfalten und so die Möglichkeit eröffnen, „daß ein bewußt gewordenes ästhetisches Verhalten zugleich ein politisches ist“.

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Der 1944 in Frankfurt geborene Mathias Spahlinger unternimmt in seinen Werken den Versuch, Musik und Musikhören von unhinterfragten Konventionen zu befreien. Indem er die Bedingtheiten von Musik durch Musik reflektiert, provoziert er idealerweise auch beim Publikum eine autoreflexive Wahrnehmung der Voraussetzungen und Mechanismen des eigenen Hörens. In seinem ersten Orchesterwerk „morendo“ (1975) zeigt er wechselnde Verhältnisse von Einzelstimmen und Kollektiv, Individual- und Gruppeneigenschaft, Emanzipation und Totalität, die zugleich sozialen Modellen entsprechen. In „RoaiuGHFF“ (1981) – dem Jazzposaunisten Albert Mangelsdorff gewidmet – lässt er die unterschiedlichen Musizierpraktiken von Sinfonieorchester und improvisierenden Jazz-Solisten aufeinander prallen und sich wechselseitig beeinflussen. So stören und ergänzen sich zwei musikalische Kulturen wie zwei exemplarische Gesellschaftsformen.

Das bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführte Orchesterstück „passage/paysage“ (1989/90) ist ein Hauptwerk Spahlingers. Es beginnt mit den zwei Es-Dur-Tuttischlägen von Beethovens „Eroica“. Einzelne zeitlich und tonal versprengte Einsätze enthalten im Kern jedoch bereits den Zerfallsprozess, der sich dann während einer Dreiviertelstunde entfaltet. Auch in „gegen unendlich“ (1995) demonstriert Spahlinger, dass jenseits tonal skalierter Höhen und Dauern ein unendlich fein abstufbares Klangkontinuum existiert. Bassklarinette, Posaune, Violoncello und Klavier treten immer wieder zu Unisoni und synchronen Sechzehntelpulsationen zusammen, erreichen diese angestrebte Gleichheit aber nie vollständig, sondern immer nur asymptotisch als Näherungswerte, denn stets gibt es geringfügige mikrointervallische und mikrotemporale Abweichungen. Das Hören wird damit zu einem Perspektivwechsel provoziert, endlich das zu hören, was wirklich klingt, statt die minimalen Differenzen als „Unsauberkeiten“ im Sinne des tonal gerasterten Zeit- und Dauernsys­tems zurecht zu hören beziehungsweise schlicht zu überhören.

Analogien als Inspiration

Die 54 Streicher von „und als wir“ (1993) platziert Spahlinger in zwei Kreuzachsen im Raum, so dass vier Quadranten für das Publikum entstehen. Anstelle der üblichen Ausrichtung auf eine Bühne oder ein ideales Hörzentrum in der Saalmitte haben alle Hörerinnen und Hörer verschiedene Positionen zu den wahlweise quer, spiralförmig oder quadratisch im Raum erklingenden Aktionen. Die Einmaligkeit der Platzierung zielt darauf, dass „jeder hörer immer auch in den köpfen der anderen hört, in dem bewusstsein, dass jeder, je nach perspektive, (in wahrnehmbaren grenzen) etwas anderes hört“. Darin liegt ein ebenso elementares wie revolutionäres politisches Potential: Die Relativierung des eigenen Standpunkts durch die Wahrnehmung anderer Standpunkte.

Die Rolle von Komponist und Partitur hinterfragen die „vorschläge: konzepte zur ver(über)flüssigung der funktion des komponisten“ (1992). Das kleine Heft enthält präzise Angaben zu gruppendynamischer Gestaltung exemplarischer Strukturen der neuen Musik. Im Zentrum stehen verschiedene Interaktionsweisen sowie die Entfaltung und Beobachtung der spezifischen „eigendynamik“ oder „eigenzeit“ der zur Klangerzeugung gewählten Materialien und Objekte. Darauf aufbauend entwickelte Spahlinger später „doppelt bejaht“ (2009). Diese „etüden für orches­ter ohne dirigent“ bestehen aus Tonvorräten und grafischen Notationen, auf deren Grundlage das Kollektiv selbständig Klangbänder, Punktefelder, Polyrhythmik und anderes hervorbringen und einzig durch aufmerksames Hören, Abwandeln, Vorschlagen und auch wieder Zurücknehmen in eine von drei möglichen Nachfolgestrukturen verwandeln soll, die dann ihrerseits zu weiteren Klangsituationen zu transformieren sind. Das kompositorische Privileg der Setzung und Zersetzung von Struktur wird so zum demokratischen Aushandlungsprozess gleichberechtigter Orchestermitglieder vergemeinschaftet.

Spahlinger studierte bei Konrad Lechner in Darmstadt und Erhard Karkoschka in Stuttgart. Nach ersten Anstellungen in Stuttgart, Berlin und Karlsruhe lehrte er von 1990 bis 2009 – in der Nachfolge von Klaus Huber – als Professor für Komposition und Leiter des Instituts für neue Musik an der Musikhochschule Freiburg. Zu seiner großen Schülerschaft gehören unter anderem Johannes Schöllhorn, Markus Hechtle, Jörg Mainka, Simon Steen-Andersen, Annette Schmucki, Alan Hilario, Annesley Black, Johannes Kreidler und Marc Barden. Auch Andrew Digby, Posaunist des Ensemble ascolta und composers slide quartet, war sein Schüler. Nun initiierte er eine kleine Tournee mit Spahlingers „Über den frühen Tod Fräuleins Anna Augusta Markgräfin zu Baden“. Das Stück wurde seit der Uraufführung 1995 erst wieder Mitte der 2010erJahre vom New Yorker Vokalensemble ekmeles aufgegriffen. Anlässlich von Spahlingers 80. Geburtstag am 15. Oktober sang die ausgezeichnete Formation das Requiem erneut zusammen mit dem Freiburger Ensemble Aventure und dem zum Posaunenquintett erweiterten composers slide quartet in Köln, Stuttgart und Freiburg.

Düsteres Geburtstagsständchen

Je fünf Männerstimmen und Posaunen überlagern sich zu clusterartigen Akkorden. Später sind es drei Frauenstimmen, Oboe, Klarinette und Trompete. Das Lamento des Barockdichters Georg Rudolf Weckherlin auf den Tod des zwölfjährigen Mädchens geht mit den Einzelstimmen meist im Gesamtklang auf. Einzelne Textstellen treten dagegen madrigalesk hervor. Die Plötzlichkeit des Schicksalsschlags „Ein plitz zumahl geschwind und hell / Ein strahl schiessend herab gar schnell“ zuckt in schnellen Tritoni herab. Zu „Ein regenbog von farben reich“ spannen die Posaunen mit aufsteigenden Liegetönen gleichsam einen Bogen in immer engeren Intervallschritten, so dass es zu flirrenden Schwebungen und einem Aufleuchten des Obertonspektrums kommt. Das hochenergetische Sirren dünnt dann wieder bis auf einen Einzelton aus. Der Klang verliert seine Farbigkeit und Kraft, wird blass, starr, erstirbt. Sein komplettes Verklingen ist dann ein sinnfälliges Hörbild des Todes.

Soziologische Kompositionen

Spahlingers Duo „still/moving“ stammt aus dem Zyklus „asamisimasa“, der 2015 bis 2019 für das gleichnamige norwegische Ensemble entstand. Klarinette und Violoncello suchen trotz ihrer Andersheit die größtmögliche Annäherung. Material, Struktur und Formverlauf entfalten so die klare gesellschaftspolitische Implikation einer Begegnung von zwei autonomen Subjekten. In konsequenter Hoquetus-Technik verketten sich beide Stimmen zu einem neuartigen Hybrid-Instrument. Schließlich verschmelzen beide in einem perfekten Unisono, um sich durch mikrotonale Differenzen dann wieder zu entzweien und eigene Wege zu gehen.

Bei der Kölner Aufführung ging Spahlingers Stücken die Premiere des Vokaltrios „Cuál es su ardor“ von Petros Leivadas voraus. Der 1990 in Thessaloniki geborene Komponist lässt Tenor, Bariton und Bass zwischen verschiedenen Techniken und Stilen changieren. Atmen, Zischen, Hecheln und Stöhnen werden plötzlich zu Anklängen an byzantinische Monodie und isorhythmische Motette à la Machaut, bis Stör­elemente wieder zu den erweiterten Vokaltechniken der neuen Musik zurücklenken. Ebenso sind Texte auf Griechisch, Spanisch, Latein und Deutsch ineinander verschlungen. Abhängig von Artikulationsweise und Sprachkenntnissen versteht jeder im Publikum andere Fragmente und gewahrt dabei – wie in Spahlingers „und als wir“ – die Relativität der eigenen Welterfahrung. Und eben das ist die Basis für politisches Denken und Diskutieren.

  • Sendung des Konzertmitschnitts aus der Hospitalkirche Stuttgart hörbar in hr2-kultur und SWR Kultur „JetztMusik“ am 17. Dezember, 21.00 Uhr

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