Man beschrieb seine Musik als „klanggewordenen Eros“ und „musikalische Pornografie“. Maurice Ravel (1875–1937) verführte die Welt mit impressionistischen Zauberklängen und betörenden Rhythmen. Sein „Boléro“ wurde der Hit des Jahrhunderts.
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Maurice Ravel – ein Komponist mit verschlossenem Charakter, kindlicher Fantasie und feinmechanischem Perfektionismus. Foto: Unbekannt; gallica.bnf.fr/ Bibliothèque nationale de France
Der Komponist im Puppenhaus
Zuerst wollte er das Stück noch „Fandango“ nennen. Mehr als 150-mal hintereinander wird die zweitaktige Rhythmusfigur gespielt, diese markanten Triolen auf der Kleinen Trommel, allmählich lauter werdend – ein Ostinato über rund 14 Minuten. Und dazu hören wir eine ständig gleiche Melodie und ihre Variante, immer Melodie und Variante, in der Regel jede jeweils zweimal hintereinander, sie wechseln sich laufend ab, also insgesamt neunmal die Melodie, neunmal die Variante. Motivisch entwickelt sich da nichts, harmonisch verschiebt sich nichts. Nur die Instrumentierung verändert sich, wechselt die Klangfarbe, wächst an vom Zarten zum Mächtigen.
Natürlich ist das eine Provokation fürs Klassik-Publikum. Ravel erwartete nicht, dass viele Orchester dieses Stück spielen würden. Es sei ja nur eine „simple Orchestrierungsübung“, meinte er, ein spezielles „Experiment“, ein 14-Minuten-Crescendo. Auch die Melodien: nichts Besonders, „unpersönlich“, in der volkstümlichen, üblichen „spanisch-arabischen Art“. Es sollte ja nur dazu getanzt werden.
Der große, der maßlose Erfolg des „Boléro“ überraschte auch Ravel. Schon 1934 – sechs Jahre nach der Uraufführung als Ballett – wurde das Stück erstmals in einem Spielfilm verwendet. 1939 entstand die erste Jazzversion. Der „Boléro“ wurde zur Wiener Kabarettnummer, zum erotischen Film-Soundtrack, zur olympischen Eiskunstlaufmusik. Sogar die Geburt des Hardrock 1968 soll von ihm inspiriert gewesen sein. Idee und Aufbau dieser Komposition leuchteten jedem Publikum sofort ein. Das Orchestrierungs-Kunststück wurde als „Beleuchtungswunder“ (Stuckenschmidt) gefeiert, als „dynamisch-koloristischer Illusionsakt“ (Adorno).
Die insistierenden, anschwellenden Wiederholungen entfalten zudem einen hypnotischen Effekt, nähern sich einer Trance-Musik an. Die einen sprachen da von „spiritueller Ekstase“, die anderen von einer „Apotheose des Sexualakts“. Ravel hingegen hatte sich eine Fabrik als Hintergrund der Bühnenszene gewünscht – er assoziierte mit dem ostinaten Rhythmus den Takt von Maschinen. Natürlich wusste er: Dieser exzentrische Boléro war ein Meisterwerk. „Leider enthält er keine Musik“, fügte er hinzu.
Präzision und Rhythmus
Sein Vater war ein Ingenieur aus der Schweiz. Auch Ravel kannte beim Komponieren diese Faszination fürs Präzise, fürs Planerische, für die Feinmechanik. Keine Einzelheit wolle er dem Zufall überlassen, sagte er einmal. Wegen seines Perfektionismus, der ihn oft viel Zeit kostete, nannte ihn sein Freund Strawinsky den „Schweizer Uhrmacher“ unter den Komponisten. Édouard Lalo sprach im Zusammenhang mit Ravels Musik sogar von „mechanischer Kälte“. Ravels Oper „L’enfant et les sortilèges“ (1925), in der die Dinge zum Leben erwachen, teils mit motorischer Präzision, reflektiert diesen Ingenieursgeist.
Ravel mochte auch klare Formen, barocke Tänze, Exaktheit – darin war er sehr anders als Debussy, der die ganze Kompositions- und Formenlehre zuweilen gerne in Klangwolken aufgelöst hätte. Auch war Ravels legendäre Orchesterfarbenkunst nichts anderes als eine Technik des nachträglichen Instrumentierens. Meist gab es bei ihm zuerst eine Klavierfassung, quasi die technische Zeichnung des Ingenieurs, die danach in nüchterner Planung farbig ausgestaltet wurde fürs Orchester. Interessanterweise hat er vom „Boléro“, dieser reinen „Orchestrationsübung“, später noch eine „einfarbige“ Fassung für zwei Klaviere angefertigt.
Die Mutter kam aus dem Baskenland und war der spanischen Kultur eng verbunden. Von ihr hatte Ravel sein Faible für alles Iberische: „Als ich noch ein Baby war, sang meine Mutter mich immer mit baskischen oder spanischen Liedern in den Schlaf.“ In vielen Werken adaptierte Ravel daher typisch spanische Tanzrhythmen und Tonleitern, übte sich in ausgedehnten modalen Melodien und kleinen Verzierungen. Dabei war sein Spanien immer ein „idealisiertes Spanien“, wie Manuel de Falla einmal anmerkte, ein märchenhaftes Spanien, ein Traumland – eben so, wie seine Mutter es ihm vermittelt hatte.
Traumfänger
Ravel schien in seiner Musik aber die Essenz des Spanischen einzufangen, so wie er in „La Valse“ die Essenz des Walzers traf, in „Tzigane“ die Essenz der Gypsy-Melodik, in der „Pavane“ von 1908 die Essenz einer Pavane. Als er in Marokko einmal gefragt wurde, ob er auch etwas Arabisches komponieren wolle, meinte er, das würde dann aber „arabischer“ werden als alles, was es in Marokko gibt. War „L’enfant et les sortilèges“ die Oper, die dem (väterlichen) Ingenieursgeist entsprach, so war „L’heure espagnol“ (1907) die Oper der (mütterlichen) Spanien-Schwärmerei. Das Präzise und das Spanische – sie vereinigten sich bei Ravel vor allem in der Lust am Rhythmus. Stücke wie „Alborada del gracioso“ (aus „Miroirs“) oder „Malagueña“ (aus „Rapsodie espagnole“) sind Gipfelpunkte harter Motorik.
Das große Klavier
Ravel war ein zierlicher Mann, nicht einmal 1,60 Meter groß. Er kleidete sich mit exquisiter Eleganz, trat in jungen Jahren sogar herausfordernd dandyhaft auf. Sein Instrument war von Anfang an das Klavier. Jedoch fehlte ihm die Kraft, die Brillanz, die Statur zum ganz großen Solisten. Er habe sich an diesem riesigen Flügel immer sehr klein gefühlt, verriet er einmal. Das hat ihn aber nicht davon abgehalten, in manchen Kompositionen die pianistische Virtuosität auf die Spitze zu treiben („Gaspard de la nuit“, 1908). Denn beim Komponieren traute er sich alles zu.
Von 1900 bis 1905 bewarb er sich fünfmal für den Rompreis, den höchsten Kompositions-Preis Frankreichs – leider immer vergeblich. Zweimal schied er sogar schon in der Vorrunde aus – wegen fundamentaler Verstöße gegen konventionelle Kompositionsregeln. (Gefordert waren Fugen und Kantaten.) Da Ravel zu dieser Zeit schon ein halbwegs renommierter Komponist war, löste die Ablehnung von 1905 einen regelrechten Eklat aus, der den Leiter des Pariser Konservatoriums seinen Posten kostete. Diese Affäre machte Ravels Namen schnell bekannt. Einige Konzertskandale, wie sie um 1910 üblich waren, folgten.
So wurde auch der skandalaffine Ballett-Impresario Diaghilew auf ihn aufmerksam: Ravel war der erste Nichtrusse, der für die „Ballets Russes“ komponierte. Aus seiner Ballettmusik „Daphnis et Chloé“ (1912) stammen der impressionistische Klangzauber von „Lever du jour“, aber auch das orgiastische „Bacchanale“ im 5/4-Takt, „eines der spektakulärsten Satzwunder aller französischen Musik“ (André Boucourechliev).
Auf die Idee, ein Klavierkonzert zu schreiben, kam Ravel dagegen erst durch Paul Wittgenstein. Der österreichische Klaviervirtuose, der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte, hat etliche Komponisten mit Klavierwerken allein für die linke Hand beauftragt. Darunter waren auch Hindemith, Korngold, Prokofjew und Richard Strauss. Ravel schrieb nicht nur das Konzert D-Dur für Wittgensteins linke Hand, sondern schuf parallel dazu (1929–1931) das beidhändig zu spielende Klavierkonzert G-Dur.
In beiden Werken hört man deutlich den Einfluss des frühen Jazz. Kurz zuvor nämlich (1928) hatte Ravel eine viermonatige Dirigenten-Tournee durch die USA und Kanada absolviert, hat sich dort mit Gershwin angefreundet und die Orchester von Duke Ellington und Paul Whiteman gehört. Und auch vor dieser Reise schon hatte sich Ravel für Jazz interessiert, wie einschlägige Elemente in „L’enfant et les sortilèges“ und im Blues-Satz der 2. Violinsonate verraten (beide um 1925).
Übrigens hatte Ravel die Hoffnung, mit dem G-Dur-Konzert selbst als Solist auf Tournee gehen zu können. Damit hatte er sich allerdings überschätzt – er beschränkte sich dann aufs Dirigieren. Die beiden Klavierkonzerte sollten seine letzten wichtigen Werke bleiben.
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Maurice Ravel – ein Komponist mit verschlossenem Charakter, kindlicher Fantasie und feinmechanischem Perfektionismus. Foto: Unbekannt; gallica.bnf.fr/ Bibliothèque nationale de France
Leben im Museum
Noch mit 40 Jahren wohnte Ravel bei seiner Mutter. Als sie 1917 starb, zog er zum Bruder (der war Ingenieur wie der Vater). Erst als der Bruder heiratete, sah sich Ravel nach einem eigenen Zuhause um und wurde rund 45 Kilometer von Paris entfernt fündig.
Sein neues Heim in Montfort-l’Amaury – Ravel nannte es „le Belvédère“ – erinnert äußerlich an eine Märchenburg, ein Geisterschiff, ein Puppenhaus. Das Gebäude hatte weder fließendes Wasser noch elektrischen Strom. Ravel stopfte das Innere mit Andenken und Sammelstücken voll, mit Automaten, Kitsch und Nippes. Das surreal-museale Arsenal erinnerte Besucher frappant an die Bühnenszene seiner Oper „L’enfant et les sortilèges“. Außerdem umgab sich Ravel mit einer Horde Siamkatzen und einem japanischen Garten voller exotischer Blumen und Bonsais.
Der kleine Mann und große Komponist schien sich Tieren, Kindern, Spielzeug und Märchen näher zu fühlen als der Welt der Erwachsenen. Offenbar ging er sein Leben lang nie eine Liebesbeziehung ein. Zu allen Menschen außerhalb der Familie wahrte er vielmehr eine höfliche Distanziertheit.
Er sei eben ein Baske, sagte Ravel: Er empfinde tief, aber werde kaum vertraulich. Auch Debussy, den Verbündeten im impressionistischen Geiste, hielt er auf freundliche Distanz. Vielleicht wären sie sich nähergekommen, hätte die Presse die beiden nicht so häufig gegeneinander ausgespielt.
Sterben im Koma
Mitte der 1920er-Jahre begannen gesundheitliche Probleme Ravels Leben zu bestimmen. Immer häufiger litt er an Schlaflosigkeit, Erschöpfung, Kopfschmerzen. Er versuchte sich mit Unternehmungen abzulenken, ging zweimal auf große Tournee (1928 und 1931). Doch nach einem Autounfall 1932, von dem er eine Kopfverletzung davontrug, verstärkten sich die Beschwerden rapide. Ravel wurde immer zerstreuter, vergesslicher, mutloser. Er begann nach Worten zu suchen, verlor die Fähigkeit zu komponieren und Klavier zu spielen, zeigte Lähmungserscheinungen.
Seine Symptome wurden beschrieben als Aphasie, Alexie, Amusie, Apraxie. Auf der Suche nach einer Ursache für seine degenerative Hirnerkrankung unterzog er sich 1937 einer neurochirurgischen Operation. Nach dem Eingriff fiel er ins Koma und starb elf Tage später.
Von dem Neurologen Oliver Sacks stammt der Satz: „Man fragt sich [...], ob Ravel nicht schon auf dem Höhepunkt seiner Demenz war, als er seinen ‚Boléro‘ schrieb, ein Werk, das eine einzige musikalische Phrase [...] unermüdlich wiederholt [...].“
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