Selbst in Zeiten nach oben sich weitender Alterspyramiden muss man sich‘s verdeutlichen – und darf keinesfalls dabei stehenbleiben, die Jahreszahl zu feiern: Denn dieser „Uralte“ ist weiterhin nahezu unvermindert tätig und beschenkt uns mit Interpretationen, bei denen Altersreife und jugendliche Beschwingtheit ununterscheidbar werden, durchpulst von einer Freude des Schenkens, von sprudelnder Bejahung, die – gleichfalls ununterscheidbar – bei dem tief Gläubigen diesseitiges Leben ebenso betrifft wie das jenseitige: „Ich glaube an die Auferstehung“. Der Verfasser dieser Hommage, vor mehr als 40 Jahren sein Assistent, später fast Freund geworden, erinnert sich, dass Blomstedt in der Dresdner Heide beim gemeinsamen Joggen vor Bäumen stehenbleiben, sie lange betrachten, bestaunen konnte – „Schöpfung“ für ihn überall und wir allenthalben Brüder von allem, was Schöpfung ist.
Die auf spektakuläre Daten versessene Öffentlichkeit, der Dirigierende berufsbedingt Rechnung tragen müssen, wird in Bezug auf diese bei ihm kaum fündig. Stattdessen hat es beim kontinuierlichen Fortschreiten von Lehrzeiten unter anderem bei Igor Markevitch und Leonard Bernstein, von kleinen (Norrköping) zu Spitzenorchestern (Dresden, San Franzisco, Leipzig, gastweise unter anderem bei den Berliner und Wiener Phiharmonikern) eine über aktuelle Zusammenarbeit hinausreichende Schleifspur wechselseitigen Vertrauens, beidseitiger Liebe gegeben.
Zur durchaus berechtigten Vorstellung, die Zeit der charismatischen Potentaten am Pult gehe zu Ende, zeitgenössische Musik, historische Aufführungspraxis und Steigerungen des spieltechnischen Niveaus von Musikern hätten eine neue Kameradschaft des Musizierens erzwungen, steht Blomstedt quer. Wenn man an diesem Maßstab festhält, fehlt wenig zur Behauptung, dieser älteste noch tätige Dirigent sei zugleich einer der modernsten; jene Kameradschaft hat er mit Autorität seit jeher unangestrengt beisammen halten können.
Unvorstellbar erscheint das ohne religiös fundierte Begriffe von Dienst, Dienstschaft, derentwegen es kein Zufall ist, dass er bis heute Proben stehend absolviert, seit etlichen Jahren auf den Taktstock verzichtet: Ungeschützt, ohne dazwischengeschaltetes Instrument will er sich der Musik, den Musikern gegenüber befinden. Beim zweiten Thema im ersten Satz von Schuberts „Unvollendeter“, diesem volksmusikalisch grundierten, in ein Werk höchsten Anspruchs versetzten Ländler, verzichtet er nahezu aufs Dirigieren – als ob Anleitung, Kommando nichts zu suchen hätten bei einer Musik, die essenziell den Musikanten gehört. Schlicht sachbezogen hat er schon dirigiert, bevor man es altersweiser, wirkungssicherer Beschränkung zuschreiben konnte.
Angesichts des nur bedingt demokratisierbaren Verhältnisses zwischen Orchester und Dirigent – einer steht oben und hat das Sagen, viele müssen folgen – sind tiefer liegende Wechselseitigkeiten oft zugunsten von „Herrschaftlichkeit“ oder Ähnlichem übersehen worden, auch von gescheiten Leuten wie Elias Canetti und Theodor W. Adorno.
Bei Blomstedt reichen sie tiefer als bei anderen dank einer besonderen Begabung, die Spontaneitäten der vielen, die Töne hervorbringen, mit eigener Spontaneität nahtlos zu verbinden – immerhin desjenigen, der selbst keine Töne hervorbringt, indes fürs Ganze verantwortlich ist. Ein hartnäckiger Probierer, der genau weiß, was gesagt und erreicht werden muss, weiß er auch, immerfort offen für deren Angebote, dank welcher Kompetenz Musiker Eigenes beitragen. Deutlich zeigte es sich in Dresden bei der Begegnung mit einem Orchester, dessen Erfahrungen damals im Wagner-Strauss-Bereich weiter reichten als die seinigen.
Im Blick auf etwas, was mit Aufrichtigkeit, Lauterkeit, Ehrlichkeit des Musizierens nur unzureichend umschrieben ist – und in Zeiten, da schamlose Lügen im öffentlich-politischen Raum buchstäblich mörderische Triumphe feiern, muss man darauf hinweisen, dass auch ehrlich beziehungsweise verlogen musiziert werden kann. Letzteres beginnt schon, wo einer sich am Pult wichtiger nimmt, als er ist, sich öffentlicher aufführt, als nötig, und setzt sich fort, wo klangliche Effekte aufgeplustert, expressive Momente genüsslich übertrieben werden und so weiter. Diese freilich unterliegen subjektivem Ermessen, auch sie gehören zur Musik. Hier abzuwägen, beim Musizieren im gemeinten Sinn ehrlich zu sein, erfordert Arbeit, die nie endet, akribisches Sich-Identisch-Machen mit den Werken. Auf die Frage, wie viel mehr Zeit fürs Studium der Partitur vonnöten sei als fürs Probieren mit dem Orchester, antwortete Georg Solti: zehnmal so viel. Kein Wunder, dass Kommentierende bei Blomstedt sich mit griffigen Charakterisierungen schwer tun – außer pauschalen wie „Werktreue“, sofern sie die Ungerechtigkeit vereinzelter Hervorhebungen scheuen und nicht beim Lob einer Gewissenhaftigkeit stehenbleiben, die strukturellen Momenten zum Recht verhilft. Da bliebe schon derjenige außer Betracht, der Einzelheiten, schöne Stellen, harmonische Finessen und Übergänge – unverkennbar verliebt – wie Kostbarkeiten präsentieren kann, ohne dass deren Einbindung ins Ganze Schaden litte.
Was für ein Glück, was für eine Chance, dass wir in Herbert Blomstedt einen Wahrheitszeugen erleben können! Wir gratulieren – ihm und uns.