Im Gedenken an ihre Söhne Christoph und Stephan und im Bestreben, deren Liebe zur Musik lebendig zu erhalten, gründeten Karlheinz und Christiane Kaske 1988 eine Stiftung zur Förderung der Neuen Musik und ihrer Weiterentwicklung. Preisträger der Stiftung sollen hochbegabte Komponistinnen und Komponisten sein. Im Geiste dieser Gründungsidee entwickeln Joachim und Dagmar Kaske und ihre Kinder Katharina, Johannes und Fabian die Stiftung weiter.
Seit 2014 gibt es eine Medienpartnerschaft zwischen der Christoph und Stephan Kaske Stiftung und der neuen musikzeitung. Damals berief der Stiftungsratsvorsitzende Joachim Kaske den nmz-Herausgeber und Verleger Theo Geißler und den nmz-Chefredakteur Andreas Kolb in den Stiftungsbeirat. Die Stiftungsbeiräte Konstantia Gourzi, Minas Borboudakis, Theo Geißler und Andreas Kolb haben sich 2017 darauf geeinigt, den mit 7.500 Euro dotierten Stiftungspreis an die ukrainische Komponistin Anna Korsun zu vergeben. Die Laudatio hielt auf Wunsch der Preisträgerin ihr ehemaliger Kompositionsprofessor an der Münchener Musikhochschule, Moritz Eggert. Die nmz druckt im Folgenden eine gestraffte Fassung der Laudatio ab.
Anna war sehr blass und sehr schweigsam, als sie das erste Mal als Studentin bei mir auftauchte. Sie zeigte mir ein Stück für Stimme solo, das eigentlich aus allem Möglichen bestand, nur nicht aus normal gesungenen Tönen. Tatsächlich gab es da diverse experimentelle Notationen, Geräusche am Rande der normalen Tonproduktion, Schmatzen, Kreischen, Quietschen, Schlürfen, Gurren, Summen – alles, was man mit einer Stimme machen kann, aber meistens eben eher nicht macht.
Um zu testen, ob Anna zu den weltfremden Komponisten gehört, die sich unrealisierbare Dinge ausdenken, bat ich sie frech, mir doch einfach mal alles vorzumachen, was sie sich da so als Vokalakrobatik ausgedacht hatte. Eine solche Aufforderung kann Studenten unter großen Druck setzen, aber ich glaube ganz fest daran, dass man nichts komponieren sollte, was man weder erklären, klopfen noch vorsingen kann. Anna überraschte mich hier im positivsten Sinne – nicht nur war sie auf Anhieb in der Lage, jeden der von ihr geforderten Vokaleffekte vorzuführen, sie war auch in der Lage, diese Effekte perfekt vorzuführen. Schnell war mir klar, dass ich es hier mit einer Komponistin zu tun habe, die eine sehr genaue innere Vorstellung von dem hat, was sie schreibt.
Etwas Weiteres beeindruckte mich bei Annas Musik – bis heute übrigens – nämlich die große Klarheit ihrer Partituren. Das ist etwas, an dem sie bis heute unermüdlich feilt, mit wohlüberlegten Formulierungen, die so einfach wie möglich beschreiben, was sie sich bei der Klangproduktion vorstellt. Ihre Partituren sind keineswegs dazu gedacht, die Musiker zu überfordern, mit Information zu überfrachten oder Jurys eines Kompositionswettbewerbes zu beeindrucken. Sie sind alleine möglichst einfache Gebrauchsanweisungen für etwas, das sich im Endeffekt ganz anders anhören wird, als es in den Noten aussieht. Anna hat schon ganz früh etwas verstanden, das manch andere Komponisten nie verstehen werden, nämlich dass Partituren keineswegs an sich irgendetwas bedeuten, sondern alleine Mittel zum Zweck sind. Der Klang ist zuerst da, hoffentlich in der inneren Vorstellung, und dann versucht man eine Art Gebrauchsanleitung zu kreieren, die bei der Erzeugung dieses Klanges nützlich ist: das sind Partituren, nicht mehr und nicht weniger.
Wie klingt ihre Musik aber? Vordergründig könnte man sagen, es geht ihr um ungewöhnliche Klänge, Geräusche vielleicht. Aber ihre Musik auf so einen einfachen Nenner zu bringen, funktioniert nicht.
Ich predige meinen Studenten immer wieder, dass Klang eigentlich das Uninteressanteste an Musik ist. Das sage ich nicht, weil ich Klang per se uninteressant finde, sondern weil ich den manchmal schon absurden Klangfetischismus der Neuen Musik als gnadenlos um sich selbst kreisend empfinde, da er nichts mitteilt, außer der Faszination für sich selbst. Anna aber belehrte mich eines Besseren, nämlich dass es sehr darauf ankommt, wie man sich den Klängen nähert, welche innere Haltung dahintersteckt. Und ich finde diese ihre Haltung ganz außergewöhnlich und wirklich einzigartig in der Neuen Musik.
Wir alle wissen, dass ein letztlich musikantischer Klangkomponist wie Lachenmann seine Klangforschung quasi ex negativo legitimierte, also aus der Verweigerung, klassische Schönheitsbegriffe in der Musik zu repetieren und damit abzunutzen.
Nun handelt es sich bei Anna Korsun aber um einen ganz neuen Typus von Komponisten – denn für sie kommt der andere Klang, um den sie in jeder ihrer Partituren ringt, nicht etwa aus der Negation, sondern aus der Affirmation, und das ist ein ganz großer Unterschied, denn diese Affirmation braucht keine komplexe ästhetische Legitimierung, sondern folgt der authentischsten Legitimierung, die eine Komponistin haben kann, nämlich dem Suchen nach Schönheit im Ding an sich, der Musik selber. Ja, es ist ganz unverhofft eine Generation von Komponistinnen und Komponisten herangewachsen, die nicht über den Umweg der Adorno-Allee zu anderen Klängen finden müssen, sondern diese Klänge als so natürlich und notwendig empfinden, dass sie sie ganz selbstverständlich verwenden, ohne sich vorher erst irgendwo dafür rechtfertigen zu müssen. Und das verändert natürlich die Musik, die so entsteht. Es weht darin ein anderer Geist, der freier und abenteuerlustiger ist.
Sowohl Anna als auch Sergey kommen aus einer Tradition der osteuropäischen Musique Concrete, die direkt auf futuristische Pioniere wie zum Beispiel Mossolow zurückgeht. Anna fehlt aber der teilweise auch gewalttätige Impuls dieser Musik, tatsächlich würde ich sie viel eher als eine Art Klangphilosophin bezeichnen. Ein Philosoph erklärt einen Sachverhalt, der mit Worten nur sehr schwer zu fassen ist, der aber mit Logik und Hingabe erfasst werden kann. Anna dagegen erklärt uns mit ihrer wunderbaren Musik Dinge, die so ungewöhnlich sind, dass sie überhaupt nicht mehr mit Worten erfasst werden können. Und das sind die Dinge, für die es die Kunst der Musik gibt, diese Kunst, die uns immer wieder so frustriert und manchmal auch zornig macht, die aber manchmal eben auch Wunder hervorbringen kann, so wie das Wunder von Anna Korsuns Musik.
Deswegen sind ihre Titel auch immer Hinweise auf etwas, was sich der normalen Vorstellung entzieht. Sie hat sich mit ihren Themen eine ganz eigene Welt geschaffen, eine Welt voller Eulenfluchten, Gehirnmärchen, nächtlichen Haltestellen, Walträumen und kosmischen Nebeln. Würde man diese Welt erforschen, müsste es eine Expedition sein wie weiland in die „Zone“ in Tarkowskijs „Stalker“-Film. In Annas Musik höre ich seltsame, verlassene Landschaften, die in einer Art Traumlogik ihre eigene Geschichte erzählen, es klingt hier quasi nicht das, was der Reisende in die Landschaft mit hineinnimmt, sondern es klingt die Landschaft selber. Ich bin ganz sicher, dass es in diesem Kosmos noch viel zu entdecken gibt.