„Musik klingt immer, wo auch immer, wie laut und leise auch immer.“(1)
Diese Aussage stammt von einem, für den das Leben in und mit Klängen Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit ist: Hans Otte. „Natürlich gibt es in der Peripherie alle möglichen Schattierungen von Musik. Musik ist nur ein Begriff. Musik ist ein Ereignis, eine Situation. Musik ist eine Energie, vor allen Dingen das: eine Vibration. Und das geht vom ganz Unhörbaren bis zum Hörbaren und kennt weder Anfang noch Ende.“ Hans Otte, 1926 in Plauen im Vogtland geboren, gehört zu denjenigen Musikern, die für sich weder die Arbeitsteilung zwischen Komponist und Interpret kennen, noch die Trennung zwischen den künstlerischen Gattungen akzeptieren. Er komponiert, ist Konzertpianist (nicht nur seiner eigenen Werke) – gelegentlich hat er auch dirigiert (allerdings vornehmlich seine eigenen Stücke) –, er schreibt, dichtet, zeichnet, malt. Von 1959 bis 1984 ist er Musikchef von Radio Bremen, wo er 1961 das Festival „Pro Musica Antiqua“ initiiert und 1962 das dazu passende Gegenstück: die „Pro Musica Nova“. Zwei sich ergänzende Festivals, deren unorthodoxe, mitunter gar spektakuläre Programmgestaltung Radio Bremen als Forum innovativer Musikideen international bekannt machen, Festivals, die der Sender im neuen Jahrtausend aber nicht mehr fortführt.
Otte hat Klavier, Orgel, Dirigieren und Komposition in Weimar und Stuttgart sowie an der Yale University (1950/51) unter anderem bei Paul Hindemith studiert – ihm verdankt er seine Neigung zur Alten Musik, und mit den Berliner Philharmonikern haben beide auch gemeinsam konzertiert, Otte am Flügel, Hindemith auf dem Pult. Otte hat etliche Klangtexte geschrieben, Texte über das Wesen des Klangs, klingende Texte: „Klang: / Klang ist. / Ist immer, / allezeit. / Ist immer: / Klang im Raum, / Raumklang, rundherum, / nach allen Richtungen / und / in mannigfacher Gestalt: / hoch – tief / laut – leise / weit – nahe, / in wechselnden Geschwindigkeiten: / fließend, / kommend, gehend, / gleichzeitig / in Raum von Zeit, / in Klangraumzeit / sich entfaltend, / öffnend, zeigend, / dem, / der sich freigibt, / einlässt / und / ganz gegenwärtig sein will, / um so, für die Dauer einer Weile, / an den Klängen, / der Wirklichkeit, / teilnehmen zu können.“
Inmitten des Klangs, in den Klängen sein, in sie hinein tauchen, sich von ihrem Sog mitreißen zu lassen ... Das Konzept von Ottes Musik will einfach sein – egal welche komplexen Strukturen und multimedialen Mixturen sie auch hat (vor allem in den 1960-/70er-Jahren). Seine Werke verstehen sich als Wahrnehmungsschulungen des Ichs, eines jeden Ichs: das des Komponisten, das der Interpreten und das der Zuhörer und Zuschauer.
Es geht ihm um Klänge, Wörter und Bilder, die frei sind von Ideen; um Klänge, Bilder, Wörter, die aus der inneren Stille als einer existenziellen Grundhaltung kommen und nicht mehr oder weniger sind als sie sind. „Ich schätze die Stille sehr, vor allen Dingen nicht nur die Stille draußen, sondern auch die Stille drinnen, also die Stille, die frei ist von Gedanken und Bedeutungen und Vorstellungen.
Das ist schon eine ganz besondere Stille, aus der Klänge wunderbar kommen können.“ Und das können durchaus sehr verschiedene Klänge und Werkkonzeptionen sein. Als Festivalmacher bei Radio Bremen hat sich Otte als erstaunlich offener und zukunftweisender Kunst-Musik-Produzent hervorgetan. Ein Engagement, das – so Radio Bremen es schon nicht fortführen will – endlich aufgearbeitet und dokumentiert werden sollte.
Abgesehen von der damaligen Musikavantgarde – Cage, Stockhausen, Ligeti, Kagel, Koenig, Schnebel, Nono, Ferrari et cetera –, hat Otte auch den amerikanischen Minimalisten in Bremen ein Forum gegeben, als sie anderswo in Deutschland noch niemand aufführen wollte. Zudem ließ Otte auch andere als (primäre) Musiker zu Wort kommen: zum Beispiel die Happening-Künstler Vostell und Kaprow, die Fluxus-Leute, die Künstlerinnen Rebecca Horn und Ulrike Rosenbach, die Philosophen Adorno und Marcuse. Ottes „Pro Musica Nova“ ist ein einzigartiges Experimental-Labor, geprägt von einer beispiellosen Offenheit innerhalb des Festivalgetriebes, wegweisend für etliche interdisziplinäre Aktionen und Fragestellungen, die erst heute allmählich diskutiert werden. Für diese einzigartige intermediale Kunstarbeit im nachkriegsdeutschen Musikkontext hat Otte jüngst den Ehrenpreis des Deutschen Klangkunstpreises 2006 erhalten.
„Sitze stille, tue nichts. Der Frühling kommt – und das Gras wächst von alleine.“
Das jahrhundertealte Gedicht der Zenni Kushu enthält zentrale Gedanken für Ottes Leben und Werk. Deshalb ist es auch kein Zufall, das er es seiner „alltagsmusik“ vorangestellt hat. Entstanden ist das gut 50-minütige Geigenstück während eines mehrmonatigen Aufenthalts in einem japanischen Zen-Kloster zu Beginn der 1990er-Jahre.
„Dort konnte man Schritt für Schritt an sich beobachten, wie Musik am schönsten ist, wenn sie ganz sie selber ist, wenn sie also nicht durch den Willen beherrscht wird des Menschen, des Ego vor allen Dingen, wenn sie nicht beherrscht wird, um lediglich ein Vehikel zu sein für Ideen, die außerhalb ihrer liegen, ob das jetzt politische oder literarische oder anekdotische sind, sondern wo Musik, wo Klang wieder Klang ist und Töne wieder Töne. Dann kriegt die Musik eine Reinheit und eine unermessliche Schönheit, wenn sie so ist, wie sie ist.“
Das Zulassen der Klänge und das Sich-Einlassen auf die Klänge, auf ihr Eigenleben ist ein Schlüssel, wenn nicht sogar der Generalschlüssel zum Verständnis von Ottes Musik, eine – bei allem Ich des Autors, das sie weder leugnen kann noch will – non-pathetische Musik. Sie fließt absichtslos, nicht-intentional. Sie enthält keine außermusikalischen, keine außerkünstlerischen Vorstellungen.
Das Hören und das Sehen der Ereignisse, die geschehen, genügt Otte völlig. Und je länger er komponiert, je älter er wird, umso reichhaltiger gestaltet sich seine Genügsamkeit: die Einfachheit, die Klänge zuzulassen, sich auf sie einzulassen. Natürlich hat sich Hans Otte, der Musikbegeisterte und der für viele Ästhetiken überaus empfängliche Hörer und Kombattant, in den 1950-/60er-Jahren auch mit dem Serialismus beschäftigt, doch konnte er damit nicht viel anfangen.
„Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass die Freiheit der Klänge so aussehen müsste wie da. Das ist auch nach wie vor mein Standpunkt. Es ist heute viel schwieriger, ein Stück zu schreiben, das mit zwei großen Terzen be-ginnt wie das ,Buch der Klänge‘ und den anschließenden Vibrationen als jetzt einfach an seriellen Mustern und Pattern zu arbeiten. Es ist dermaßen verengend.“
„Das Buch der Klänge“ ..., obgleich schon in den Jahren 1979 bis 1982 geschrieben, ist sicher wenn nicht das, so aber zweifellos ein ganz entscheidendes Vermächtnis zu Lebzeiten, das Otte für sich selbst geschaffen hat, zugleich für alle Pianisten, die dieses zwölfteilige Klavierstück von gut siebzig Minuten Dauer spielen wollen, und für uns, die Hörer. Gewidmet hat Otte sein „Buch der Klänge“ übrigens all denen, „die ganz bei den Klängen sein wollen, um so auf der Suche nach dem Klang der Klänge, dem Geheimnis allen Lebens, sich selbst wiederzufinden, zu erfahren“.
Am 3. Dezember wird Hans Otte achtzig. Dazu wünschen wir ihm das, was er selbst im Titel seiner erst im Februar 2006 in Bremen durch Claudia Birkholz uraufgeführten Klavierkomposition festgehalten hat: „Sounds in My Hands“.
Anmerkungen
(1) Alle Zitate von Hans Otte, sofern nicht anders angegeben, entstammen Ge- sprächen mit dem Autor.
(2)Hans Otte: „Klang“ – für Katrin Rabus (1991), in: Hans Otte. KlangRaumZeit,
Katalog der Galerie Katrin Rabus Bremen 1991, o. S.