Hauptbild
Ausdruck und Widerstand: Yara Mekawei. Foto: Jasper Kettner

Ausdruck und Widerstand: Yara Mekawei. Foto: Jasper Kettner

Hauptrubrik
Banner Full-Size

„Ich kämpfe gegen alte Tabus“

Untertitel
Die Klangkünstlerin Yara Mekawei
Vorspann / Teaser

Yara Mekawei hat viel Wichtiges zu sagen, was im derzeitigen Diskurs über zeitgenössische Musik – hierzulande wie in ihrer Heimatregion – zu wenig vorkommt. Sie wurde 1987 in Kairo geboren und ist dort aufgewachsen. Seit drei Jahren lebt und arbeitet sie in Berlin. Ihre Arbeit ist extrem vielschichtig und vereint Vergangenheit und Zukunft, Tradition und Moderne, Analoges und Digitales.

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Yara Mekaweis Selbstverständnis: ein Wimmelbild

Die Basis für ihr Komponieren ist Yara Mekaweis Identität. Ihr Frau-Sein spielt dabei eine große Rolle: In Ägypten hat sie erlebt, was es bedeutet, wenn ein Land zunehmend seine Frauen unterdrückt. Mittlerweile ist dort extreme Gewalt gegenüber weiblich gelesenen Personen alltäglich, ihre Bewegungsfreiheit und Rechte sind stark eingeschränkt. Deshalb nutzt Mekawei bewusst in ihren Werken ihre weibliche Stimme. Eine weitere Säule ist Mekaweis Glauben. Das ist für sie allerdings nicht der Islam, sondern primär die alte Sufi-Philosophie, die sie eingehend studiert hat. Mekaweis Verständnis ist dabei stets zutiefst humanistisch: Laut ihr geht es darum, ein Mensch zu sein. Das wiederum verknüpft sich mit politischen und sozialen Botschaften wie der Forderung nach Redefreiheit. Sie möchte außerdem in ihren Werken ihre weibliche Perspektive auf ihre Religion zum Ausdruck bringen. 

Trotzdem versteht sich Yara Mekawei als Wandlerin zwischen den Welten – sowohl in Ägypten als auch hier in Deutschland: „Im Norden bin ich eine Schwarze, im Süden eine weiße Person.“ Apartheid und Postkolonialismus würden noch immer das Leben auf dem afrikanischen Kontinent dominieren. „Die Karte sagt mir, dass ich in Afrika bin, aber die Erde erscheint mir so, dass dem nicht so ist.“ Deshalb hat Mekawei eine Online-Radio-Plattform gegründet: Radio Submarine. Es geht gegen die postkoloniale Kartografierung an: Mekawei fungiert darin als Geschichtenerzählerin auf Streifzügen durch die Klang- und Musikuniversen afrikanischer Städte. Für sie ist Nordafrika eine andere Region als die Mitte oder der Süden, als Ägypterin ist sie primär mit ägyptischem Arabisch, was in anderen Ländern auf dem afrikanischen Kontinent nicht verstanden wird, und Englisch aufgewachsen. 

Mit ihren Kompositionen möchte Yara Mekawei ihre Identität und die alte Geschichte Ägyptens beschreiben, untersuchen, durchleuchten. Sie will verstehen, wer sie selbst ist und was mit ihrem Land passiert (ist). „Ägypten und Kairo sind, wer ich bin. Das möchte ich verstehen.“

Yara Mekaweis Arbeit: ein Oktopus mit vielen Tentakeln 

Wie zu einem Fixstern kehrt Yara Mekawei in ihren Arbeiten immer wieder zur alten Sufi-Philosophie zurück. Jahrelang hat sie sich mit dem „Buch der Toten“ beschäftigt, einem alten Manifest, das die Vorbereitung der Seelen beschreibt auf ihre Reise in ihr Leben nach dem Tod bei den alten ägyptischen Göttern. Yara Mekawei zieht Verbindung zwischen dem „Buch der Toten“ und alten Sufi-Philosophien – und möchte die alte Sprache mithilfe von moderner Technologie in Klang übersetzen. Sie hat ein System entwickelt, das den (bereits musikalischen) Text in Klangmaterial übersetzt – wie zum Beispiel „Shams al-Ma’arif al-Kubra“ (Die Große Sonne der Gnosis), eines der wichtigsten Werke von Al’ama Abi El-Abas Al-Bony, einem mittelalterlichen arabischen Gelehrten und Experten für islamisches Recht, Sufismus und Esoterik. Das Buch ist ein umfassender Leitfaden für das esoterische Wissen über die islamische Tradition und gilt als eines der einflussreichsten Werke über den islamischen Okkultismus. Basierend auf den Sufi-Texten entstehen Klang­skulpturen und Werke – sie sind Mekaweis persönliche Interpretationen der Urtexte und für die Komponistin Utopien. Damit will Mekawei auch ein Gegengewicht sein zu existierenden Falschauslegungen der Schriften: „Ich betrachte mich selbst als jemand, der auf gute Art und Weise gegen alte Tabus kämpft.“ 

Wichtiger Bestandteil von Yara Mekaweis Kompositionen ist die arabische Sprache, die Yara Mekawei bewusst verwendet und sich aneignet. Immer wieder spricht sie in ihren Werken auch selbst. Das ist für sie ein Ausdruck ihrer Identität als Frau, die sich eingehend mit den Sufi-Texten beschäftigt hat – und Widerstand. Denn in Ägypten ist es verboten, dass Frauen über ihre Religion öffentlich sprechen. Auch deshalb hat Yara Mekawei ihre Heimat verlassen. 

Immer wieder beschäftigt sich Yara Mekawei mit den ortsspezifischen Klängen ihrer Heimatstadt. Obwohl es verboten ist, nimmt sie Field Recordings an öffentlichen Plätzen auf. Sie will verstehen, wie sich Kairo verändert, diesen Wandel dokumentieren und klanglich emphatisch nachfühlen. „Der Klang meiner Stadt spricht zu mir und beschwert sich dabei. Meine Aufnahmen verstärken ihn.“ Ihr zehn Jahre andauerndes Projekt dazu heißt „Manifes­to of Materials’ Acoustics“.

Yara Mekaweis Kompositionen: ein Melting Pot

Yara Mekaweis Kompositionen sind ein Melting Pot, der aus einem reichen Reservoir an sozialen Philosophien und künstlerischen Reisen schöpft. Ihre Werke entstehen nicht losgelöst voneinander, sondern sind Teil eines kontinuierlichen Kontinuums, worin jede Schöpfung als Kapitel in einer größeren Erzählung dient. Mit ihren Übersetzungen und Transformationen zwischen analogen und digitalen Materialien, Text und Zahlen, Verschlüsselung und Entschlüsselung, Vergangenheit und Zukunft sowie Spiritualität und Rationalität stellt Yara Mekawei die wichtigsten Fragen der Ethik auf emotional wirkungsvolle Weise – Themen, die in gegenwärtigen sozialen und globalen Krisen neue Relevanz gewonnen haben.

In ihrer künstlerischen Forschung hat sich Yara Mekawei außerdem ausgiebig mit dem Komponisten und Musik­ethnologen Halim El-Dabh beschäftigt, geboren 1921 in Kairo. Ein Pionier der elektronischen Musik, der heute leider größtenteils in Vergessenheit geraten ist und an dessen Renaissance sich Yara Mekawei beteiligt. Nachdem sie im Jahr 2004 seine Arbeit entdeckt hatte, unterrichtete sie schließlich von 2015 bis 2017 an der Modern Sciences and Arts University in Kairo seine Musik und Lehren. „Er ist eine meiner größten Inspirationsquellen.“ Im Jahr 2021 widmete ihm das Berliner Festival MaerzMusik – unter Beteiligung von Yara Mekawei – einen seiner Schwerpunkte.

Ihre Alben und Tracks betitelt Yara Mekawei oft mit Zahlenkombinationen, wie etwa das 20-minütige „120 Morning“ aus diesem Jahr oder ihr Album „1963“ aus dem Jahr 2023. „Ich komponiere Musik auf der Grundlage von Zahlen, ihrer Kodierung. Für mich sind Zahlen also neutral. Man hat keine Emotionen, keine Gefühle. Man muss nur zuhören und sich erinnern, verstehen.“ Yara Mekawei möchte ihrer Kunst keine schönen, romantischen Titel geben, sondern lieber auf den Nährboden verweisen, aus dem sich ihre Klang­skulpturen speisen. Während ihrem Kompositionsprozess denkt Mekawei selten an das Publikum, das ihre Werke hört. Sie pflegt lieber „analoge Beziehungen“ zu ihren Hörer*innen: „Nach meinen Live-Auftritten kommen die Leute zu mir und reden mit mir. Sie fragen nach der Geschichte hinter meinen Kompositionen. Ich verwende zum Beispiel religiöse Texte oder Voice-Overs. Das Publikum interessiert sich für mich und hört mir zu. Diese Verbindung ist wirklich wichtig.“

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!