In seinem Reisepass steht unter Nationalität nur der Buchstabe x. Aeham Ahmad wurde in Palästina geboren, einem bis heute offiziell nicht anerkannten Land. Seine Familie musste fliehen. Er wurde im syrischen Flüchtlingslager Jarmuk groß, ergriff von dort im Jahr 2015 die Flucht und lebt heute in Deutschland. Das ist die eine Seite der Realität. Die andere Seite im Leben von Aeham Ahmad wird erfahrbar, wenn man ihn spielen hört …
Die üblichen Fernsehbilder aus Syrien verschleiern, dass es sich hier ursprünglich um eine Kulturnation handelt. Ahmad bekam die Musik von klein auf durch seine musikalische Familie vermittelt. Am Konservatorium von Damaskus genoss er eine gründliche klassisch-pianistische Ausbildung. Denn dort lehr(t)en russische Professoren in enger Zusammenarbeit mit den weltweit tonangebenden pianistischen Kaderschmieden Moskaus.
Ein Zustand, in dem irgendwie alle gegen alle Krieg führen und Hass säen, hat das Land im Nahen Osten in eine Trümmerwüste verwandelt. In Aeham Ahmad loderte der Wunsch, die Musik dorthin zu bringen, wo sie gebraucht wird: Er packte ein altes Klavier auf einen Handkarren, zog durch die zerbombte Ruinenlandschaft des weltweit größten Flüchtlingslagers Jarmuk vor den Toren von Damaskus – und spielte! Nicht, was er studiert hatte, sondern was ihm einfiel, was er fühlte. Und lockte damit Menschen, vor allem Kinder an, von denen viele ergriffen weinten. Der improvisierende Jazzmusiker Aeham Ahmad war geboren.
Jazz ist die Kunst, mit Musik unmittelbar eine Geschichte zu erzählen. Hört man Aeham Ahmad an diesem Abend in der exklusiven Scharoun-Aula von Marl im nördlichen Ruhrgebiet spielen, braucht man seine Geschichte gar nicht im Detail zu kennen. Jeder Ton transportiert, wie sich alles angefühlt haben muss. Was auf Anhieb den Pulsschlag in die Höhe treibt, ist allein die Art, wie er mit ein paar dezent gesetzten Basstönen einen Groove von erdbebenartiger Intensität erzeugt. Sein Rhythmusgefühl wurde durch bestimmte in Mittelägypten übliche Perkussionsinstrumente inspiriert, erläutert er später im Gespräch. Und ja, ausgiebig saugt Ahmad die grenzenlosen Möglichkeiten arabischer Tonalität auf, um sein Inneres nach Außen zu kehren, aber auch, um von dort aus in Tonsysteme der europäischen Klassik und immer wieder des Jazz einzutauchen. Zerbrechlichkeit, Sehnsucht, Überschwang, Freiheitsdrang, Trauer, Freude – mehr davon lässt sich in Klaviertönen wohl kaum bündeln! Er singt auch, mit heller, fast androgyner Stimme. Die Themen seiner Lieder erscheinen in unserer behüteten Welt oft weit weg: Der Verlust von Heimat. Die Verzweiflung, wenn in der Sommerdürre das Wasser knapp wird. „Einige Lieder durfte ich in Syrien überhaupt nicht singen“, sagt er. Manche islamistischen „Moralwächter“ würden ja am liebsten jede Musik komplett verbieten. Als bezahlte IS-Schergen ihn schließlich auf offener Straße überfielen und Ahmads Instrument zerstörten, zerbrach etwas in ihm. Es war der finale Impuls, um nach Europa zu fliehen.
„Fanatismus hat nichts mit der Religion des Islam zu tun. Uns Menschen bleibt keine Alternative, als miteinander zu leben“, bekundet er in einer langen Ansprache an sein Publikum – und improvisiert extrem geschickt über ein deutsches Volkslied mit Ausstrahlung über alle Länder, Kulturen, Religionen und Nationen hinweg: „Die Gedanken sind frei“.
Fünf Jahre ist es jetzt her, dass er die lebensgefährliche Flucht übers Mittelmeer und weiter zu Fuß über die Balkanroute wagte. In Deutschland fühlt er sich willkommen. Zum Glück stieß er auf Menschen, denen es nicht gleichgültig ist, wenn jemand mit überragendem musikalischen Talent die Bildfläche betritt. Einer von ihnen ist der Pianist Edgar Knecht, der Aeham Ahmad auf Anhieb unter seine Fittiche nahm. Mittlerweile haben beide zusammen ein Duo-Projekt auf CD aufgenommen. Weitere Kontakte, noch mehr CD-Aufnahmen und Konzerttourneen folgten. Auch hat Ahmad mittlerweile ein Buch geschrieben und erhielt im Jahr 2015 den erstmals verliehenen Internationalen Beethovenpreis für Menschenrechte, Frieden, Freiheit, Armutsbekämpfung und Inklusion. In diesem Frühjahr ging auch für ihn nichts mehr und er teilt seitdem das Schicksal vieler Soloselbständiger, fürchtet nun wie viele andere, die Corona-Soforthilfe des Bundes zurückzahlen zu müssen, da diese nur Betriebskosten abdecken, welche freiberufliche Musiker in dieser Form nicht haben.
Alle drei Jahre beantragt er die Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung. Sein Auftritt in Marl sollte nun auch wieder das letzte Konzert vor dem aktuellen Lockdown sein. Nicht vor einem Publikum spielen zu dürfen, stellt gerade bei einem Menschen wie ihm sehr schnell das einzige, echte „Zuhause“ zur Disposition.