München ist nicht gerade bekannt für seine Industriekultur; schon gar nicht in Form von Ruinen und ihrer ästhetischen Umnutzung, wie man sie aus Berlin und dem Ruhrgebiet kennt. Und doch befindet sich am westlichen Rand der bayerischen Hauptstadt ein solches Denkmal: das ehemalige Heizkraftwerk Aubing – eine morbide Kathedrale des Industriezeitalters von knapp 30 Metern Höhe; darin nur drei riesige, mit mehr oder weniger gelungenen Graffitis verzierte Hochöfen. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie Anfang der 90er-Jahre die ersten Raves des Techno-Zeitalters in der stillgelegten Anlage gefeiert wurden und auch deshalb liegt es nahe, dass Mathis Nitschke hier vom 18. bis 20. Oktober seine Mixed-Reality-Techno-Oper MAYA spielen lässt.
Aufmerksam auf die Ruine wurde Nitschke 2015 durch den Architekten Peter Haimerl, der aus der Aubinger Ruine einen Konzertsaal machen wollte; auch die Münchner Philharmoniker erkannten die musikalischen Potenziale der Halle als Off-Location. Nun allerdings ist es der freie Komponist und Sounddesigner, der das Vorhaben an vier Oktobertagen zumindest temporär umsetzt. Der Münchner hat sich auf Musik in Verbindung mit Theater und neuen Technologien spezialisiert, die Besetzung ungewöhnlicher Orte zieht sich als roter Faden durch sein Schaffen: Am Pasinger Bahnhofsplatz inszenierte Nitschke 2015 mit VIOLA eine erste Operninstallation im öffentlichen Raum; 2016 bezog er mit KATHERINA ein Reisebüro an der Münchner Freiheit.
Mit MAYA folgt nun der dritte musiktheatrale Streich, der eine Dame ins Zentrum einer Transformationsgeschichte über Raum, Zeit und Medialität stellt. Mathis Nitschke nähert sich der Aubinger Industrieruine „minimal-invasiv“. Der Begriff entstammt der endoskopischen Chirurgie, bei der Haut und Gewebe kaum verletzt werden; bei ihm bezeichnet es den Vorsatz, möglichst wenig verändernd in den Originalraum einzugreifen. Vielmehr nutzt Nitschke die Kulisse als Projektionsfläche und inszeniert das alte Heizkraftwerk als „Tor zum digitalen Paradies“: „In der Mitte der Haupthalle sehen Sie die Überreste dreier gigantischer Maschinen (die Graffiti-verzierten Hochöfen) aus dem 3. Jahrtausend nach Christi. Unsere Vorfahren nutzten sie zum Speichern ihres Bewusstseins, das ihnen nach dem Tod die Erlösung im digitalen Paradies bescherte. 2050 wurde diese Zivilisation durch eine globale Katastrophe ausgelöscht; Spuren deuten auf eine zielgerichtete Reaktion der Avatare: Die Legende besagt, dass eine Auserwählte namens Maya mithilfe ihres rückgeführten Bewusstseins in einem wiederbelebten Körper eine neue Menschheit erschaffen sollte.“
Transformationsort Ruine
In Nitschkes „post-utopischer Vision“ wird die Ruine zum Transformationsort: „in eine grenzenlose Welt und ein virtuelles Leben ohne Erwerbsarbeit, gesellschaftliche Zwänge, Krankheiten oder körperliche Einschränkungen“. Konzipiert als „Ort ohne Grenzen“, kommt dieses digitale Paradies dem nahe, was der französische Philosoph Michel Foucault als „Heterotopien“ bezeichnete: „Anderen Räumen, die mit allen anderen in Verbindung stehen und dennoch allen anderen Platzierungen widersprechen“; MAYA wird zur „tatsächlich realisierten Utopie“ und in ihrer multimedialen Ausformung als „Mixed-Reality-Techno-Oper“ zu einer „Heterophonie“, die den Klang im architektonischen Raum der Aubinger Ruine als ästhetisches Dispositiv inszeniert: Realer und elektronisch erzeugter Klangraum berühren sich, Realität und Virtualität umarmen sich. Mit erweiterten Realitäten beschäftigt sich Mathis Nitschke nicht zum ersten Mal: „Vergehen“, eine Art „Pokemon Go“ für Musikliebhaber, ist eine „Oper, die man sich erlaufen kann“: Der Hörspaziergang kann jederzeit mit Smartphone begangen werden – und lässt die reale Welt auf dem Münchner Kabelsteg mit der Virtualität in klingende Interaktion treten. Auch in MAYA können die Zuschauer mittels App rätselhafte Spuren einer untergegangenen Zivilisation auf ihren Bildschirmen entdecken, welche die reale Umgebung des alten Heizkraftwerks virtuell ergänzen.
Leben ohne Limits
Mittels Lichtdesign von Urs Schönebaum werden Skulpturen im Raum geschaffen, während in der Musik Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem heterophonen Klangraum zusammengefügt werden: Zitate von Domenico Gabrielli führen über Steve Reich (1967) bis zu Klaus-Peter Werani (2017). Das Streichtrio Coriolis spielt live mit, gegen und in den elektronischen Klanglandschaften, die Mathis Nitschke gemeinsam mit Klavikon, Jörg Hüttner, dem Video- und Noise-Artisten „Rumpeln“ und Björn Eichelbaum erschafft. Mit dieser multimedialen Ausstattung seiner „Mixed-Reality-Techno-Oper“ hebt er das Selbstverständnis der Gattung Oper als audiovisuelles Gesamtkunstwerk in die Gegenwart: MAYA verbindet Oper und Techno. Beides steht für ein kraftvolles Sich-Auflehnen: gegen den Tod, gegen die Einsamkeit. Für ein Leben ohne Limits. Für die Verheißung einer Welt, in der wir nach unseren kühnsten Vorstellungen leben, ohne jemals an körperliche Grenzen zu stoßen. Ein Stück über das Sterben, über Erlösung und Transformation – also das, was Opernstoffe ausmacht: Bewusstseinserweiterung durch Musik, Sound, Licht und digitale Kunst.“