„Drei Hände voll Sand“ steht auf dem Heft. Wenn man es aufschlägt, sieht man eine komplett handgeschriebene Partitur, dessen zierliche Noten mit Hunderten von Vorzeichen und musikalischen Ausdrücken zu wetteifern scheinen, nicht selten gebremst von einer abrupten Pause. Wie ein kleines Kunstwerk wirkt jene Notenschrift für Streichquartett, die zweifelsohne kein Musiker einfach so vom Blatt abspielen kann. Was bitte bedeutet pont tasto? Flautato molto in der Violinstimme?
Blickt man auf die letzte Seite des Heftes, liest man die rätselhaften Namen weiterer Werke dieser Reihe, „Fünfgezackt in die Hand“ und „Aus der Wand die Rinne“ etwa oder „Die Dinge haben keinen Rand“. Und über alldem ein Name, den man sich merken sollte: Juliane Klein, die Komponistin jener Stücke.
Die 36-jährige Berlinerin hat sich hierzulande längst einen Namen gemacht. Dutzende von Konzertreihen, Arbeits- und Werkstipendien sowie Aufführungen in namhaften Kulturinstitutionen wie der Philharmonie Berlin oder der Musikhalle Hamburg sind der Beweis dafür, dass eben das besagte Streichquartett nicht nur ein wirres Durcheinander darstellt und sich auch all die anderen Kompositionen in der Neuen Musik-Szene großer Beliebtheit erfreuen.
Aber von vorn: Man stelle sich ein kleines Mädchen vor, das heimlich im Keller Klavier spielt. Ihre Leidenschaft, die Musik, ist ihr Geheimnis. Aber wie das so ist mit Geheimnissen: Man kann sie nicht lange verbergen und so wird sie 1978 auf die Spezialschule der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ geschickt. Komponistin wolle sie werden, erzählt die damals 11-jährige selbstüberzeugt der Jury bei ihrer Aufnahmeprüfung und kassiert damit lediglich ein ungläubiges Schmunzeln. Doch sie soll Recht behalten: Nur ein Jahr später genießt sie ihren ersten Improvisations- und Kompositionsunterricht von Herrmann Keller, bei dem sie auch erstmals mit Neuer Musik, ihrem späteren Spezialgebiet, in Berührung kommt. „Endlich konnte ich das aufschreiben, was ich möchte. Ich war nicht an Takt- und Tonartvorschreibungen gebunden. Ich hatte alle Mittel zur Verfügung und konnte die herausholen, die ich brauchte“, berichtet Klein, die schon damals am Klavier im Keller zu „komponieren“ begonnen hatte. Nach der Ausbildung an der Spezialschule folgt dort sogleich das Diplomstudium Komposition, Tonsatz und Klavier – mit 22 Jahren ist sie selber Dozentin für Tonsatz und stellt ihren ganz eigenen Lehrplan auf, bestehend aus wöchentlichen Gruppenimprovisationen, Gedächtnisdiktaten, Objektbau und dem chronologischen Lehren jährlich aufbauend von der Gregorianik bis zur Neuen Musik. Aber damit nicht genug: 1987 gründet Klein zusammen mit Thomas Bruns das „Kammerensemble Neue Musik Berlin“, das heute zu den innovativsten der Szene gehört. Und weil Klein bei allem, was sie tut so herrlich mutig und zielstrebig ist, ruft sie 1999 prompt ihren eigenen Verlag „Edition Juliane Klein“ ins Leben.
Sie hat zweifellos ihren ganz besonderen Kompositionsstil, der genau das erkennen lässt, was Helmut Lachenmann, bei dem sie 1993 ein dreijähriges Aufbaustudium im Fach Komposition anfängt, an ihr so sehr schätzt: Die Veränderungsbereitschaft und gleichzeitig Treue zu sich selbst. Veränderungsbereitschaft muss groß geschrieben werden, angesichts der Tatsache, dass die weltoffene junge Musikerin von 1993 bis 1995 auf anonyme Einladung hin in St. Petersburg lebte, dort in Filmen mitspielte, im Rundfunk live improvisierte und experimentelle 16mm-Kinofilme begleitete. „Eine wunderbare Herausforderung“, erzählt die dynamische Komponistin, die sich scheinbar von nichts und niemanden einschüchtern lässt „völlig ins Ungewisse zu gehen und unbearbeitetes Terrain zu betreten.“ Zwei Jahre später erhält sie ein Stipendium der Cité Internationale des Arts in Paris. Stipendien des Deutschen Musikrats, der Stadt Darmstadt, der Akademie der Künste und des Kultursenats in Berlin sowie – ganz aktuell – das Stipendium der Villa Massimo in Rom 2004 folgten.
In Kleins Musik spielen unterschwellige Aggressionen und Frustationen keine Rolle, sie soll frei sein von Zwängen und Ärgernissen. „Wenn etwas kräftig ist, dann aus sich heraus, nicht, weil es einen Gegenpol gibt, gegen den ich kräftig bin. Oder wenn etwas ruhig ist, ist das tatsächlich im umfassenden Sinne ruhig und nicht nur weil es im dramaturgischen Sinne da jetzt ruhig sein muss.“ Anders in früheren Werken: Da habe sie das Ausgeliefertsein der Hörer sehr genutzt, der Hörer wurde manchmal regelrecht vor den Kopf geschlagen. Das wird dieser zwar heute auch noch, aber eher im positiven Sinne: Die Vielseitig- und Vielschichtigkeit aller möglichen und unmöglichen Mittel, unter anderem die Erweiterung vom Ton über die Sprache bis hin zur Geste oder die fast unauffällige Zahlenverarbeitung, in ihren Werken ist enorm und lädt den Hörer zu unzähligen verschiedenen Assoziationen ein. So kommt es vor, dass bei Kleins Komposition „gehen“ der eine Zuhörer Krieg und Verzweiflung, der andere die große Ruhe und den inneren Frieden vor Augen hat. „Die Ideen für meine Kompositionen sind wie Samen, die eingesät sind und jederzeit anfangen können zu sprießen. Sie sind alle da, man muss nur zugreifen“, so Klein, wenn sie den Ideenreichtum, den ihre Werke ausstrahlen, erklärt. Und sie greift sichtlich oft zu, lässt das Publikum ihren aufgesprossenen Samen aufmerksam lauschen und in eine ganz neue Musik- und Konzertwelt eintauchen, etwa bei ihrer Flughafenoper „Arabische Pferde“ oder der Tischoper „West-Zeit-Story“ (1,50 mal 4 Meter „Bühne“ reichen hier scheinbar aus), beide in Hannover. Auf die kommenden Projekte, das Satellitenprojekt „HypOp“ der Staatsoper Unter den Linden mit hyperaktiven Kindern sowie das Siemens Arts Programm mit dem Freiburger Barockorchester (wohlgemerkt ein Barockorchester!) darf man besonders gespannt sein.
Dass sie als Komponistin in einer Männerdomäne agiert, empfindet Klein nicht als negativ. Die Musiker seien zwar oftmals verblüfft über eine Frau, die komponiert. Auch die Berliner Philharmoniker waren zunächst skeptisch, aber die „habe sie dann aus der Reserve gelockt“. Sagt´s und man glaubt es ihr sofort.