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Weder Lehrling noch Meister: Erik Satie (1866–1925). Foto: Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0
Weder Lehrling noch Meister: Erik Satie (1866–1925). Foto: Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0
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Wo das Leben in der Musik Platz hat

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Drei Gedanken in Form einer Birne für Erik Satie · Von Moritz Eggert
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Einleitung
Jedes Mal, wenn ich in Paris bin, besuche ich das Grab von Erik Satie. Ich erinnere mich an das erste Mal, es muss 1983 gewesen sein: Man stieg in der unscheinbaren Station Arcueil nahe Paris aus, geht in Richtung eines alten Aquädukts, dann tauchte schon das Haus mit den vielen Schornsteinen an einer Ecke auf, das Satie selber so oft gemalt hat. In seinen Zeichnungen wurde sein Haus zu einem Palast, zu einer Trutzburg, zu einem Labyrinth, dabei bewohnte er darin nur eine ganz normale kleine Wohnung. Man konnte diese Wohnung nicht besuchen. Mit meinem schlechten Französisch gelang es mir immerhin, den Weg zum Friedhof zu finden, wo ein einfaches Steingrab die Inschrift „Erik Satie – 1866–1925“ trägt.

Das sind nach wie vor die einzigen Jahresdaten eines Komponisten, die ich mir wirklich merken kann und die ich immer parat habe. Bei diesem ersten Besuch in Frankreich kaufte ich mir auch ein paar Satie-Noten, die Notenhändler schienen überrascht, dass sich ein Deutscher dafür interessierte.

Vorspiel

In gewisser Weise hat mich Satie mehr geformt als jeder andere Komponist. Ohne ihn wäre ich kein Komponist geworden, sondern irgendetwas anderes. Satie selber war Musiker und Komponist, aber es schien ihm selten wichtig zu sein, dies zur Schau zu stellen. Er war daher alles Mögliche, jeden Tag etwas Anderes, und um den Überblick zu behalten, zog er jeden Tag den exakt selben Anzug an.

Mein Vater – den ich nur einmal alle zwei Wochen in einem chinesischen Restaurant in der Nähe des Frankfurter Hauptbahnhofs traf – hatte es damals schon fast aufgegeben, mich vom Sinn des Klavierunterrichts zu überzeugen, aber sein letzter Versuch bestand darin, mir Noten eines mir bisher vollkommen unbekannten französischen Komponisten mitzubringen. Was mein Vater nicht wusste: Ich hatte gerade damit begonnen, wieder zu üben, allerdings war mein Repertoire noch relativ konventionell. Neuere Musik war mir noch fast gänzlich unbekannt.

Das Stück war von Erik Satie: „Heures Séculaires & Instantanées“, nun ganz und gar nicht eines der bekannten Stücke des Satieriken (wie er sich manchmal nannte), aber eines seiner typischsten. Mich verwirrte diese Musik komplett. Zuerst einmal klang sie wie keine andere Musik, die ich kannte, weder wie alte noch wie neue. Satie erschien mir damals wie zeitlos, außerhalb der Zeit. Dann gab es Texte zwischen den Notenzeilen, seltsame Anmerkungen, Anspielungen, exzentrisch und eigenwillig. Sollte man diese Texte lesen, beim Spielen vortragen? Später lernte ich, dass Satie das nie wollte, dennoch wird es ständig so gemacht. Hat Satie am Ende dieses Verbot ausgesprochen, damit es ignoriert werden kann?

Erster Gedanke in Birnenform

Das erstaunlichste an Erik Saties Musik ist ihre Noblesse. Je zurückhaltender und unangestrengter sie klingt, desto mehr prägt sie sich ein. Sie klingt genauso, wie sich Satie selber beschrieben hat: „Ich bin sehr jung in eine sehr alte Welt gekommen.“ Wo Satie am archaischsten ist, ist er oft am modernsten. Wo er am einfachsten scheint, ist er aber am kompliziertesten. Aber diese Begriffe reichen nicht aus, seine Musik zu fassen. Diese existiert in ihrer eigenen Welt.

Es wird ein bisschen später gewesen sein, da hörte ich Klaviermusik von Erik Satie in einer Theateraufführung, natürlich die „Gymnopédies“, die sich gerade anschickten, zu der überverwendeten Theatermusik zu werden, die sie bis heute sind. Mich nervten diese Stücke zuerst: diese freche Einfachheit, diese immer gleiche Akkordbegleitung, diese so banale Melodie! Wie konnte man so simpel komponieren, ohne sich zu schämen? Gerade erst hatte ich die Welt der Neuen Musik entdeckt, beschäftigte mich mit Boulez und Stockhausen, mit Dissonanz und seriellen Techniken, da erschienen mir diese pseudogriechischen Tänze wie eine Ohrfeige. Bis ich feststellen musste, dass man vieles von Stockhausen und Boulez sofort wieder vergaß, wogegen man die „Gymnopédies“ nach nur einmaligem Hören nicht nur nie wieder vergaß, sondern sie einen ein Leben lang begleiteten.

Reumütig und beschämt besorgte ich mir in den kommenden Jahren absolut alles, was Satie je geschrieben hat. Ich spielte und lernte alles, von den bezaubernden Stücken für Kinder bis zu den virtuoseren Werken wie der „Sonatine Bureaucratique“ oder den „Embryons desséchées“. Ich nervte meinen Klavierlehrer mit einem neuen Satie-Stück jede Woche. Ich nervte meine Freundinnen damit, dass ich ihnen endlos die „Drei Stücke in Form einer Birne“ vorspielte. Ich las alles, was es damals über Satie zu lesen gab.

Zweiter Gedanke in Birnenform

Erfreut nahm ich zur Kenntnis, dass immer mehr begannen, meine Begeisterung zu teilen. Die 80er-Jahre waren der Start der großen Satie-Renaissance, die im Grunde unverändert bis heute anhält. Satie wurde als Filmmusik verwendet, als Hintergrundmusik bei Ausstellungen, es gab Ballette, Chanson-Abende: Einmal ging ich sogar frühmorgens in die Alte Oper Frankfurt, wo ein wackeres Publikum einen ganzen Satie-Tag erleben durfte, inklusive weißem Essen und den „Vexations“.

Besonders lange arbeitete ich an einem Referat über Satie für meinen Musikkurs in der Schule. Da ich alles von Satie verinnerlicht hatte, schrieb ich einfach drauf los, ohne Fußnoten oder Quellenangaben. Mein Musiklehrer gab mir daraufhin eine 5, da er der Meinung war, ich hätte alles abgeschrieben. In diesem Moment wusste ich, dass ich Komponist und nicht Musiklehrer werden wollte.

Meine ersten Stücke waren natürlich allesamt Satie-Plagiate. Neben den Prog-Rock-Stücken, die ich für meine erste Band schrieb, gab es Werke wie „Geschichten vom Bauer Heisch“, in dem ich den Tagesablauf eines Bauern beschrieb, dies alles natürlich in fein ironischem Ton, wie bei meinem Vorbild. Einer Geigerin in die ich verliebt war, schenkte ich eine komplette Bearbeitung der „Cinq Grimaces“, die sie mit ihrer Familie als Hausmusik spielen konnte. In meinen ersten Klavierprogrammen war immer Satie dabei, immer wieder andere Stücke.

Hätte man mich damals gefragt, wo und wann ich gerne am liebsten gelebt hätte, dann wäre sofort „Paris, 20er- Jahre!“ als Antwort gekommen. Ich stellte mir das wahnsinnig mondän vor, dieses Künstlerleben. Satie, immer ohne Geld, endlos an einem Absinth nippend, damit er länger im Café sitzen konnte. Die Bewunderung seiner Kollegen, die in ihm nie einen Konkurrenten, sondern einen eher ehrgeizlosen wie aber auch streitbaren Exzentriker sahen, der unverhofft immer wieder zauberhafte Werke zustande brachte, sich meistens aber Geld leihen musste.

Dritter Gedanke in Birnenform

Alle waren sie von Satie beeinflusst: Debussy versuchte die mittelalterlich-modale Harmonik zu evozieren, die Satie in seinen „Ogives“ verwendete, Ravel interessierte sich – selber Exzentriker – für die Abgründe in der scheinbaren Einfachheit Saties. Die „Groupe des Six“ nahm ihn zum Vorbild und Mentor. Sowohl Bildende Künstler als auch Schriftsteller bewunderten ihn, war er doch einer der ihren: Er schrieb und zeichnete, wenn ihm keine Töne einfielen, und das war genauso Teil seiner Kunst wie seine Musik.

Die Satie-Mode der 70er- und 80er- Jahre bereitete den Weg für so unterschiedliche Komponisten wie Arvo Pärt, Philip Glass und Alfred Schnittke. Ohne Satie kein „Fratres“, ohne Satie kein „Einstein on the Beach“, ohne Satie keine „Concerti Grossi“. Doch der erste „neue“ Komponist, der sich bedingungslos zu Satie bekannte war sicherlich John Cage.

Über die Gemeinsamkeiten von Cage und Satie ist viel geschrieben worden. Für mich – der ich ob meiner Satie-Begeisterung in Neue-Musik-Zirkeln oft belächelt wurde – bedeutete das immerhin eine Art Gnade, denn die vielen Cage-Jünger mussten unwillig eingestehen, dass ihr Meister Satie irgendwie gut fand. Und man meine Begeisterung für diesen „Kleinmeis­ter“ daher zulassen durfte.

Ich würde so weit gehen und sagen, dass Cage der erste Komponist war, der Cage wirklich verstand. Die anderen haben Satie nur imitiert.

Epilog

Natürlich wurde das alles irgendwann zu viel, auch mir. Ich hatte so viel Musik von Satie im Kopf, dass ich mich auch wieder davon befreien musste. Ich musste radikal andere Musik hören, um für mich Neues zu lernen. Aber Satie war ein ganz wichtiger Lehrer, eigentlich mein allererster Kompositionslehrer. Meinen „lebenden“ Lehrer – Wilhelm Killmayer – wählte ich dann aus einer Intuition heraus: Er erinnerte mich an Satie! Und nachdem ich die Musik von Killmayer nun ebenso gut kenne wie die von Satie, kann ich nun auch sagen, dass Killmayer Satie wirklich verstanden hat.

Die Musik von Satie zu verstehen, heißt nicht, sie zu imitieren. Dagegen hat sich Satie schon zu Lebzeiten gewehrt. Er wollte nie eine „Schule“ bilden, obwohl auch er Schüler hatte. Satie war Rosenkreuzer, Instantaneist, Futurist, Surrealist, Dadaist, aber all dies waren nur Rollen für ihn, er war weder Lehrling noch Meister. Das Ritual interessierte ihn in seiner Absurdität. Spektakel interessierte ihn, weil es die Kunst mit Banalität konfrontierte. Er schrieb eine der ersten Filmmusiken („Cinéma/Entr‘acte“), er ahnte Muzak mit seiner „musique d’ameublement“ voraus und machte sich gleichzeitig darüber lustig, er schrieb Ballette, die „Heute keine Vorstellung“ (Relache) hießen, weil es ihm eigentlich gar nicht wichtig war, dass jemand kam. Die Musik von Satie zu verstehen heißt zu verstehen, dass das Leben in der Musik Platz hat. Und dass man dem Leben diesen Platz auch einräumen muss. Dass ein Stück, das man 840 Mal wiederholt, mehr über das Phänomen der Zeit aussagen kann, als hundert Besuche einer Parsifal-Aufführung in Bayreuth. Dass man keine Abgründe aufreißen muss, um abgründig zu sein. Dass man nicht schwitzen muss, um wahrhaftig zu sein.

Satie war Pariser durch und durch, doch am Abend verließ er den Trubel der Stadt und fuhr in die Abgeschiedenheit von Arcueil, wo er in seinem kleinen Zimmer langsam und sorgfältig an kleinen ziselierten Werken arbeitete, viele davon zu Lebzeiten nie aufgeführt. War er einsam? Liebte er? Diese Fragen werden immer unbeantwortet bleiben, denn da Satie sich viele Masken aufsetzte, war er hinter keiner dieser Masken wirklich zu erkennen. Er war ein sehr privater Mensch, die heutige Ästhetik des Sich-Selbst-Zur-Schau-Stellens wäre ihm zuwider gewesen.

Nachspiel

Letztlich bleibt: die große Noblesse seiner Zurückhaltung, diese Musik, die sich nie aufdrängt, und gerade deswegen so eindringlich ist. Mein Lieblingsstück von Satie ist „Socrate“, wahrscheinlich weil er so viel Ähnlichkeiten mit diesem Philosophen hat.

Saties Musik ist keine Antwort, sie ist eine Frage. Darin liegt ihr wahrer Trost, denn solange wir fragen, solange leben wir auch, das hatte schon Sokrates erkannt.

Wenn ich das nächste Mal wieder in Paris bin, werde ich ihn besuchen. Blumen sind das Mindeste. 

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