Body
Wenn es im Alten Forsthaus Habichtshorst surrt, quietscht, säuselt und markante Schläge dazwischenfahren, dann ist der elfjährige Wasia Richter in seinem Element: „Hier kann man frei phantasieren, es gibt keine Grenzen.“ Doch diese Freiheit ist eine gelenkte. Denn die Vorgabe lautet: die Kompositionen sind – wie auch immer – von den jungen Töne-und-Klänge-Erfindern zu notieren. Und kompositorische Umsetzung sowie Einstudierung dieser höchst unterschiedlichen Musikabenteuer fallen fürwahr nicht leicht.
Immer wieder müssen unsichere Passagen wiederholt werden. Ein anstrengender, aber auch beflügelnder Schaffensprozeß. Und die innovationsfreudigen Sound-Sucher merken: Nicht nur die Werke großer Meister müssen exakt, ja penibel eingeübt werden. Vertrackt sind auch schon die eigenen Klangmixturen, besonders deren rhythmische Realisation. Mit Eifer bei der Sache Die 14jährige Joana Gerdau zum Beispiel hat für ihre musikalische Umsetzung ungewöhnliche Instrumente verwendet: „Einmal 2 Stöcke, die aufeinanderschlagen, für die normalen Schritte. Dann für die Vögel kleine Stäbchen, die ganz hell klingen, und für die Autos Bohrmaschinen.“ Letzere erzeugen nicht nur diverse Geräusche unseres technisierten Alltags, zum Beispiel imaginieren sie auch das Sausen der Winde. Das Platschen in einer Baby-Badewanne soll das Waten in Pfützen assoziieren, generell symbolisiert es das Lebenselement Wasser. Mit Ernst und Eifer sind die jungen Workshop-Teilnehmer bei der Sache. Musik einmal ganz anders: als großes, facettenreiches Arsenal an Geräuschen. Die Umwelt wird völlig neu wahrgenommen. Astrid Schmeling, Flötistin der Gruppe „L’art pour l’art“, ist schon in der ersten Phase ihres Workshops zufrieden mit den Ergebnissen: „Wir haben die Arbeit mit einem gemeinsamen Spaziergang begonnen, und diese Waldwanderung war die ersten sechs Wochen das gemeinsame Kompositionsthema. Von mir wurde ein Rundgang angeboten, der in drei Abschnitte aufgeteilt war. Diese dreiteilige Form wurde von den jungen Tonsetzern bei der Umsetzung ihrer kleinen Werke begeistert aufgenommen.“ „Herbstmittag“ nennt David Breu seine Komposition für Enten-Anlocker und diverse Haushaltsinstrumente. Der 14jährige Tonsetzer spielt Gitarre und Geige, jedoch nicht in diesem Workshop: „Jeder hat bei der Beschreibung dieses Spaziergangs andere Sachen im Vordergrund gehabt und auf anderes gehört: ich zum Beispiel auf Vögel, und bei anderen standen die Schritte im Vordergrund.“ An den zu Musik gewordenen Geräuschen des Winsener Workshops hätten zumindest zwei bahnbrechende Komponisten unseres Jahrhunderts ganz sicher ihre Freude gehabt: Pierre Schaeffer, der „Vater“ der musique concrète, ebenso wie ein anderer weltweit bekannter Experimentator und Musik-Philosoph. Greift doch das Winsener Kinderkomponisten-Projekt den Gedanken von John Cage auf, nämlich alles in der Umgebung zu Hörende als Musik zu empfinden, generell die Kunst in direkten Bezug zur unmittelbaren Erfahrung zu setzen. Für Astrid Schmeling ein wichtiger Ansatz, bei Kindern und Jugendlichen die Scheu vor der angeblich spröden Neuen Musik abzubauen: „Wir nehmen das Wort ,Neue Musik‘ gar nicht in den Mund. Wir wollen erreichen, daß diese Klassifizierungen endlich aufhören. Das hier ist eben Musik – peng.“ Workshops mit den Komponisten Malcolm Goldstein aus den USA und mit Hans-Joachim Hespos werden dieses Projekt begleiten. Beide Tonsetzer stellen ihre Arbeiten vor und sprechen darüber mit ihren jungen Kolleginnen und Kollegen. Und natürlich dürfen Gesprächs-Konzerte mit „L’art pour l’art“ nicht fehlen: „Und da machen wir“, so Astrid Schmeling, „auch gar nicht so viel Zinnober darum, ob unsere Musik nun besonders modern oder sonstwie ist. Die Workshops bieten eine breite Palette, ein möglichst großes musikalisches Handwerkszeug: von herkömmlichen Noten über graphische Notation bis hin zum Arbeiten zum Beispiel mit Sekunden-Einteilungen – alles ist denkbar.“ Hör- und Sehspaziergänge Die jungen Workshop-Teilnehmer können nicht nur der Natur, sondern auch Plätzen, Gebäuden, Wegen und so weiter eine Komposition widmen. Es soll das Wesen, der Charakter eines Ortes erfaßt und durch die Verbindung mit Selbsterlebtem musikalisch beschrieben werden. Und bei Workshop-Teilnehmer David Breu stößt dieses Angebot auf Gegenliebe: „Es gibt natürlich viele Sachen, die man heute komponieren kann. Aber ich finde es eben in diesem Workshop besonders interessant, was man so alles aus bestimmten Klängen machen kann und wie man die beschriebenen Häuser, Plätze, Straßen oder zum Beispiel auch die Natur in unserer Musik wiedererkennt.“ Das Trio von „L’art pour l’art“ – Flötistin Astrid Schmeling, Schlagzeuger Matthias Kaul und Gitarrist Michael Schröder – bietet eine mehrmonatige Unterrichts-Einheit an, eingeteilt in die drei Altersstufen: 7 bis 10 Jahre, 11 bis 14 Jahre und 15 bis 19 Jahre. Der Unterricht wechselt zwischen Gruppen- und Einzelbetreuung. Den Ausgangspunkt bilden Hör- und Sehspaziergänge zu unterschiedlichen Tageszeiten. Für Astrid Schmeling hat dieses Projekt eine ganz neue Dimension: „In dieser Form ist es das erste Mal auch für uns. Wir waren zwar beteiligt an Projekten, die von Hans Werner Henze ausgingen. Oder wir haben Stücke für Kinder in Konzertform geschrieben: zum Beispiel wurden Märchenstoffe vertont, die singspielartig gebaut waren. Da haben wir sehr viele Erfahrungen gesammelt und Workshops gemacht. Sie hatten eher einen improvisatorischen Charakter. Aber die konkrete Schulung dieses Projekts – wie finde ich eine Form und wie finde ich eine notierte Sprache und so weiter? –, die ist neu.“ „Der Wunderwald“ heißt zum Beispiel die Komposition einer Elfjährigen. Phantasie ist Trumpf. Und so empfindet Workshop-Teilnehmer David Breu dieses Projekt denn auch als wirksames Gegenmittel gegen die passive Musikberieselung allerorten: „Rockmusik hör’ ich zwar auch gern, zum Beispiel Herbert Grönemeyer. Aber ich find’ es gerade auch interessant, mal was ganz anderes zu hören und zu machen.“ Und Astrid Schmeling nennt auch noch einen anderen Vorteil: ,,Das Projekt nimmt den Kindern die Scheu. Es werden keine bestimmten Fertigkeiten vorausgesetzt, bevor die jungen Interpreten und Komponisten musikalisch einen ,Piep‘ von sich geben dürfen. Die Grenzen zwischen Improvisation und definierter Form sind in unseren Workshops fließend. Wir probieren viel aus. So untersuchen wir zum Beispiel die Instrumente ganz genau: was können die alles sagen, und welche Charaktere passen beim Experimentieren mit Klängen gut zusammen?“ Auch wenn der elfjährige Wasia Richter schon mal beim Einstudieren der teils streng notierten Werke herumalbert, so fühlt er sich doch bei seiner musikalischen Umsetzung eines Waldspaziergangs durchaus als ernstzunehmender Komponist: „Mozart hat das ja auch so gemacht, daß er nur die Natur gewählt hat und keine Autos oder sowas.“ Den Hinweis, zur Zeit Mozarts habe es ja auch noch gar keine Autos gegeben, quittiert der Elfjährige mit einem spitzbübischen „Oh, schade.“ Höhepunkte des Projekts werden natürlich die Aufführungen der Klangtüfteleien kommenden Juli sein. Stolz präsentiert werden sie dann von den jungen Tonsetzern höchst persönlich und ihren musikalischen Freunden. Gespielt wird an den vielen Stätten der Inspiration, in Stadt und Land. Ein Bus wird das Publikum von Ort zu Ort bringen. Entdeckerfreude Zum bisher einzigartigen Winsener Projekt erscheint eine umfangreiche Dokumentation, angereichert mit vielen Fotos. Sie wird in gebundener Form zum Beispiel an die Landesmusikräte, an Musikhochschulen, die Gesellschaften für Neue Musik sowie an die Bundesgeschäftsstelle von „Jugend musiziert“ verschickt. Natürlich – noch muß in den Winsener Workshops gefeilt werden. Doch die Werke der jungen Musikpfadfinder und -pfadfinderinnen, mit ihrer Entdeckerfreude und Liebe zum Detail, lassen noch einiges erwarten: noch viele ganz eigene musikalische Umweltbeschreibungen. An Phantasie jedenfalls mangelt es den eifrigen „Workshoppern“ beileibe nicht. So auch nicht der 14jährigen Gretje Koch: „...’nen Teppichklopfer auf ein Sofakissen geschlagen, das ist der bellende Hund.“