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Mit Musik den Reichtum der Lebenswelten erschließen

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Über das Wechselspiel zwischen Musik und Identität &#183
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Die beiden vorangegangenen Texte haben sich mit den Wirkungen von Musik auf Denken und Persönlichkeit beschäftigt. Es scheint gerechtfertigt, davon auszugehen, dass die Beschäftigung mit Musik Entwicklungstendenzen bremsend oder fördernd beeinflussen kann. Rechtfertigen solche Überlegungen nun auch die Rede vom Bildungswert der Musik?

Von bildenden Einflüssen mag man eine gewisse Nachhaltigkeit erwarten. Darüber hinaus sollen sie nach traditioneller Auffassung zur Orientierung beitragen (Hentig, 1999, S. 55). Solche Orientierung geschieht nach Schäfer (1995) als Eigenleistung des Subjekts durch die Einordnung des jeweils Neuen in bereits Erfahrenes und Getanes, durch sinnvolle Anordnung der Erfahrungen in individuellen „Mustern“. Voraussetzung ist die Konfrontation mit „Gegenständen“, die mit der ganzen sinnlich-emotionalen Palette des Menschen wahrgenommen werden (S. 19f.). Solche Bildungsgegenstände wären demnach weniger von sich aus prägend, sondern müssten eher als je besondere Angebote verstanden werden, die jeder und jede Einzelne individuell zur Orientierung verwenden kann. Was aber ist nun das Besondere des Angebotes „Musik“, welche Orientierung ermöglicht dieser Gegenstand?

Zunächst lernt man im Musikunterricht, sich im Bereich der Musik zu orientieren: Wie klingt dies oder jenes, wie ist eine Tonleiter aufgebaut, welche Komponisten haben wann gelebt, wohin muss ich wie greifen, wenn dies oder jenes erklingen soll, welche Erfahrungen und Möglichkeiten zum inneren Mitvollzug hält diese oder jene Musik für mich bereit? Damit gerät wieder der Eigenwert der Musik in den Blick, der hier allerdings Anlass zu der Frage geben soll, warum der Mensch solcherlei Orientierung immer wieder gesucht hat und sucht.
Unter einer solchen anthropologischen Perspektive wird in der Fachliteratur auf den Aspekt der Kommunikation und Gemeinschaftsbildung verwiesen, der etwa den evolutionären Ausschlag für die Ausbildung von Musik gegeben haben könnte (vgl. Suppan, 1984; Jourdain, 2001). Tatsächlich mag in der „Melodie“ eines Schreis sowohl beim Urmenschen als auch beim Säugling (vgl. Klausmeier, 1978) eine Vorform von kommunikativer Musik, von Musik als Ausdruck gegeben sein. Musik bietet auch Möglichkeiten des psychischen und körperlichen Mitvollzugs und Nachvollzugs, sie kann also im Jargon der Sprachwissenschaft nicht nur „gesendet“, sondern auch „empfangen“ werden. Neben der sprachlichen Kommunikation mit ihren Charakteristika, zum Beispiel der angestrebten Eindeutigkeit, hätte der Mensch also eine weitere Kommunikationsform entwickelt, die anderes und auf andere Weise transportieren kann.

Der gemeinsame Code

Das erwähnte Gemeinschaftsgefühl, ja eine Gruppenidentität, kann entstehen, wenn die spezifischen Zeichen der Musik zu einem gemeinsamen Bezugssystem werden. Bezogen auf eine multinationale Schulklasse führt Maria Spychiger aus: „Grundlegende Konzepte des menschlichen Lebens und Zusammenlebens – Freude, Trauer, Ruhe, Schönheit und so weiter – ebenso wie elementare Kategorien der Wahrnehmung, zum Beispiel laut-leise, hoch-tief, langsam-schnell und so weiter, können musikalisch erfahren und repräsentiert werden [...].

Die Kinder bauen damit einen gemeinsamen Code auf, der weit über den sprachlichen hinausreicht, und sie müssen in ihren Interaktionen nicht ständig über ihre unterschiedlichen gesellschaftlichen, familiären und religiösen Konzepte stolpern, sondern haben die Möglichkeit, sich auf ihre gemeinsam aufgebauten musikalischen Referenzen zu beziehen“ (2001, S. 34). Musik bietet solche Referenzen und Identitätsangebote – wie Volksmusik und aktuelle Charts zeigen – auch für Regionen, Nationen und Generationen an.Mit wem jedoch kommuniziert der zu Hause allein für sich selbst Klavier spielende Mensch, um welche Identität geht es in diesem Fall? Es liegt nahe, hier von einer „Kommunikation mit sich selbst“ auszugehen, die die eigene Identität zum Thema hat. Auch für den Begriff der „Identität“ findet sich keine einheitliche Sichtweise oder gar Definition in den Sozialwissenschaften und der Psychologie. Schon die Übersetzung des Begriffs als „Sich-selbst-gleich-Sein“ macht deutlich, dass es um ein Verhältnis zu sich selbst geht.

Haftet auch dem Identitätsbegriff die Assoziation der inneren Harmonie und wiederum der Konstanz an, so ist doch Zweifel daran laut geworden, ob – vor dem Hintergrund einer komplexen Gesellschaft ohne verbindliche Lebensform und Wertorientierung – eine stabile und eindeutige Identität heute überhaupt möglich ist. So ist die Rede von „multiplen Realitäten“ (Schütz, 1962a; 1962b, S. 340ff.) und Identitäten, „Patchwork-Identität“ (Keupp, 1988; 1989), „pluralen Identitäten“ oder Identitäts-Übergängen (Welsch, 1998); vermehrte „Identitätsarbeit“ (Cohen, Taylor, 1980, S. 96) scheint notwendig. Wo ein Sich-gleich-Sein thematisiert wird, wird der Blick zugleich auf mögliche Divergenzen gelenkt: Divergieren können etwa mein Ideal und meine Selbstwahrnehmung, meine bewussten Gedanken und das untergründig Gefühlte, die verinnerlichten Erwartungen anderer und die eigenen tiefen Bedürfnisse, schließlich auch meine Selbstkonzepte in verschiedenen sozialen Zusammenhängen. Als negativ empfunden werden Divergenzen, sobald sie den Wunsch nach Veränderung mit sich bringen – und wo es um Divergenzen in mir selbst geht, müssen also Veränderungen in mir selbst angestrebt werden. Möglicherweise könnte in solchen Veränderungen der tiefere Grund für die Ausbildung der Künste liegen. Auch hier wieder ist an ein Kontinuum von oberflächlichen bis tief greifenden, von kurzfristigen bis lang anhaltenden Veränderungen zu denken. Auf der eine Seite steht hier die Stimmungsmodulation für die Zeit des Hörens von Musik, des Lesens eines Textes oder des Betrachtens eines Bildes. Das Radio beim Spülen oder Rasieren ist sicher in vielen Fällen ein treffendes Beispiel. Länger und eindringlicher wirkt für manchen der Besuch einer Opernaufführung oder Ausstellung. Wird die Beschäftigung mit Kunst, das eigene Malen, Musizieren oder Dichten zum längerfristigen Interesse oder gar zur „Passion“, dann kann das als „Arbeit an sich selbst“ empfunden werden, wie auch Bastians Befragung der erfolgreichen jungen Musiker belegt (1991, S. 155ff.).

Musik kann gewissermaßen wie ein großes Sandförmchen in den Sand unserer Psyche hineingreifen und dort seine Spuren hinterlassen. Dabei können alte Muster noch einmal befestigt werden oder auch ganz neue Formen entstehen. Es kann sich um mit anderen geteilte oder um ganz individuelle Muster handeln. Und schließlich können die Förmchen mehr oder weniger tief in den Sand hineinreichen, können die Oberfläche tangieren, die der Wind des Alltags schon bald wieder anders formt, oder können nach einigem Graben ungekannte Tiefen zu Tage fördern.

Einige Förmchen werden als industrielle Massenware produziert, beworben und konsumiert, andere sind in mühevoller Handarbeit als Frucht langen Kämpfens und Suchens entstanden. Einige schwimmen auf den Wellen wechselnder Moden, andere sind Ausdruck einer langen Zeitspanne gesellschaftlichen Lebens, so dass sich durch das Kennenlernen und Nacherleben die Wurzeln und der Entwicklungsgang einer Kultur sozusagen „aus der Innenperspektive“ erschließen lassen. Außerdem gibt es auch hier die Antiquitäten und ihre Liebhaber ...

Sobald der Mensch als freies Einzelwesen in Abgrenzung zu anderen, und sobald die Gruppe von Menschen in Abgrenzung zu anderen Gruppen sich erleben konnten, bedurfte es eines Verhältnisses zu sich selbst, einer „Selbst-Orientierung“, „Selbstdefinition“ und Selbstformung, die vielleicht die Herausbildung von Kunst notwendig machte. Und auch hier zeigt sich deren Eigenständigkeit in ihrer Verflochtenheit mit anderen Lebensbereichen, etwa mit Religion, Arbeit, Recht, Kampf und Feier (vgl. Suppan, 1984), die jeweils von der speziellen Potenz der Kunst profitierten und so in ein Selbstbild integriert werden konnten. Dass der Rhythmus einer Musik auch als „Gebrauchsgegenstand“ (Suppan, 1984) zur Arbeitserleichterung eingesetzt werden konnte, tut keinen Abbruch. In dem Augenblick, wo sie dabei auch ästhetisch wahrgenommen wird, kommt der spezielle Kunstaspekt der „Arbeit an Identität“ zum Tragen. Dabei wohnen den verschiedenen Künsten je spezifische Potenzen inne. Je nach Ausdrucksmedium sprechen sie die Körperlichkeit des Menschen auf charakteristische Weise an, beziehen das Verbale, Klangliche oder Visuelle mit ein, laufen in der Zeit ab oder führen zu zeitunabhängigen materiellen Ergebnissen. In allen aber geht es um den psychischen Mitvollzug und um Strukturen und Formen, was noch einmal das Bild des „Sand-Förmchens“ rechtfertigt. Was aber speziell die Musik kann, kann in diesem Sinne tatsächlich nur die Musik.

Lebensentwürfe zur Probe

Dabei stellt Musik verschiedener Zeiten, Gattungen und Idiome je besondere Verbindungen zu kulturellen Wurzeln her, repräsentiert auf ihre Weise je unterschiedliche Welt- und Lebensentwürfe und bietet sie zum „Anprobieren“ an: klösterliche Kontemplation; ritterlichen Minnedienst; aristokratische Feinsinnigkeit; gelehrte Raffinesse; höfische Prachtentfaltung; Ornament, Affekt und Pathos; Regionalstil, „goût“ und Nationalgefühl; Lust und Selbstinszenierung des Virtuosen; tragische und komische Bühnenfiguren; Tanz, Witz und Spiel; fromme Bibelausdeutung; Zuflucht und Trost; Ekstase und Gotteslob; Protest und Aufbegehren; die Suche nach Erlösung und Wahrheit; Impulsivität und komplexe Konstruktion; Mystik, Zufall und Ironie ... Letztlich können jedes einzelne Musikstück und jede Art, sich dazu zu verhalten jeweils Einzigartiges „anbieten“, womit sich gewissermaßen Welten an möglichen Erfahrungen auftun.

Den Reichtum dieser Welten in eine Beziehung zu sich selbst zu setzen und davon für sich zu profitieren, – das soll Musikerziehung ermöglichen helfen.

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