Vom 1. bis 10. Oktober widmete sich das Großprojekt „Zukunftsmusik“ der Vermittlung zeitgenössischer Musik in Stuttgart und Umgebung. Unsere Autorinnen Verena Großkreutz und Mechthild Schlumberger berichten über zehn innovative Festivaltage.
Während Stuttgart-21-Gegner am Freitagabend, den 1. Oktober, im Stuttgarter Schlossgarten mit Vuvuzelas und Trillerpfeifen lärmend ihrem Unmut über den unsäglichen Polizeieinsatz gegen Schüler am Vortag Luft machten, ging es im Zentrum an der Halle in Ostfildern besinnlicher zu. Im Eröffnungskonzert waren zwar gut 200 Musizierende beteiligt – neben Profis wie den Neuen Vocalsolisten und dem Percussion Ensemble Stuttgart vor allem Kinder und Jugendliche der Musikschule Ostfildern und 128 singende Erwachsene der Stadt.
Dennoch bewegte sich Paolo Perezzanis neuestes Werk „Au bord du sens“ (Am Saum des Sinns) meist in ruhigen Gefilden. Seine besondere Wirkung erzielt das Werk durch die ungewöhnliche Hörperspektive. Das Publikum sitzt in der Mitte, die Ensembles sind drumherum positioniert: Die vier Jugendorchester aus Gitarren, Flöten und Streichinstrumenten in den vier Ecken, die acht Solisten, die vier Schlagzeuger und die acht Chöre an den Seiten. Dadurch entsteht ein akustischer Surround-Sound aus Instrumenten und Stimmen.
Das Festival „Zukunftsmusik“ suchte bewusst seine Mitwirkenden und sein Publikum an Orten des kommunalen Kulturlebens. Man wollte innerhalb vertrauter Strukturen Neugierde für das Neue wecken. Veranstalter waren das Netzwerk Süd, das sich seit 2008 und bis 2011 – finanziert über das Netzwerk Neue Musik der Bundeskulturstiftung – unter dem Dach von Musik der Jahrhunderte der Vermittlung von Neuer Musik in der Stuttgarter Region widmet.
Für „Zukunftsmusik“ hatte sich das Netzwerk Süd mit einem anderen Netzwerk zusammengetan: Mit dem Verein KulturRegion Stuttgart, einem Zusammenschluss von 38 Städten und Gemeinden, die seit 1991 durch gemeinsame Kulturprojekte das Erscheinungsbild der Region mitprägen wollen. Für das Festival wurden zwölf Komponisten mit Projekten beauftragt, die speziell in einer schwäbischen Klein- oder Mittelstadt umzusetzen waren und die Menschen vor Ort einbezogen.
Mit dabei war auch Esslingen. Hier startete der politisch ambitionierte Johannes Kreidler an einem Samstagvormittag im Schwörhof seine Performance „Arbeitsmarktplatz Esslingen“, in der er selbst mit Zylinder den Ton angab. Beteiligte außerdem: Mitglieder des SWR Vokalensembles, die singende Polizisten mimten, Schlagzeuger, Musiker der Esslinger Musikschule und Mitglieder des Jugend-Theaters Stage Divers(e). Johannes Kreidler interessierte vor allem die Tatsache, dass in Esslingen 1894 das erste Arbeitsamt gegründet wurde und versuchte in seinem Festival-Beitrag eine Reflexion darüber. Er spielte mit Klischees zum Thema Arbeitszeit, Arbeitslosigkeit und Vollbeschäftigung. Finaler Höhepunkt war die „erste Roboter-Demonstration“. Auf einer Rampe stapften in Reih und Glied 100 Spielzeugroboter, bewaffnet mit Demo-Plakaten wie „Arbeit für alle“, ihrem Untergang entgegen. Denn Polizisten fingen bald darauf an, die hilflosen Plastikmonster zu zerdeppern. Schöner Nebeneffekt: Die anwesenden Kinderseelen bluteten beim Anblick der Zerstörung eines solch hippen Spielzeugs und schritten zur Tat: So fanden einige der futuristischen Puppen unversehrt in glücklichen Kinderarmen Zuflucht. Klasse!
Integriert in „Zukunftsmusik“ war ein kleines Festival im Festival, eine eigene, vom Innovationsfonds Musik der Stadt Stuttgart geförderte Konzertreihe, die Orte in der Landeshauptstadt bespielte. Den Anfang machte „Galerie“: ein „musiktheatralischer Parcours“, den der Komponist Hannes Seidl und der Videokünstler Daniel Kötter im Stuttgarter Klett-Areal in der Rotebühlstraße unter der engagierten Mitarbeit der Verlagsangestellten angelegt hatten.
In 41 Stationen führte diese Klang-Video-Bild-Installation die Besucher einzeln durch die Eingeweide der Klett-Verlage – durch Heizungskeller, Lagerräume, Büros – und machte sie selbst zu Protagonisten der theatralen Aktion.
Verena Großkreutz
Freizeit als Spektakel
Zwei europäische Musiktheaterproduktionen waren im Rahmen des Fes-tivals im Theaterhaus Stuttgart zu sehen: In „La medida de las cosas“ des spanischen Komponisten César Camarero stand eine sich selbst entfremdete Frau im Mittelpunkt. Sarah Maria Sun, Sopran, spielte diese sehr subtil. Im ständigen Dialog mit einem Instrumentalensemble, bestehend aus Klavier, Klarinette, Viola und Cello, hauchte sie Töne an, zog Vokale in die Länge – feine, hohe Laute verbanden sich zu einem Gedankengang. Ein leiser, nie endend wollender Teppich aus Flageolett-Tönen, Klangdialogen und abrupten Einwürfen entwickelte sich, vom Klavier beginnend, in eine lebendigere sensible Raummusik.
Der melancholischen Unruhe wich schließlich eine scheinbare Erlösung und Befreiung. Zwei Gedichte der argentinischen Autorin María Negroni lagen dem Stück zugrunde. Geradezu plump wirkte dagegen das zuvor präsentierte zwanzigminütige Musiktheaterstück „Il Gridario“ des italienischen Komponisten Matteo Franceschini, das neben einer lebhaften Zeichentrick-Video-Show mit Live-Elektronik einen Volkslieder singenden Männerchor in den Mittelpunkt stellte.
Wenige Tage später gab es in Leonberg ein klanglich wenig überzeugendes philippinisches Kochereignis, bei dem Schüler auf die Afro-Asiatische Kulturgruppe Leonberg sowie zwei Schlagzeuger trafen und dabei Alan Hilarios kompositorische Anweisungen befolgen mussten: Das spärliche Bambusgeklöppel sowie das durch Mikrophone verstärkte Töpfeklappern und Zischen der Speisen in der Pfanne boten insgesamt eine belanglose einstündige Kochgeräuschkulisse, bei der das eigentlich Spannende für das Publikum das sinnliche Erlebnis der sich langsam im Raum ausbreitenden Wärme und die zunehmend scharf-exotischen Gerüche waren. Belohnt wurden die Anwesenden mit einem Buffet.
Das Abschlusskonzert im Theaterhaus Stuttgart stellte mit der Musiktheater-Video-Performance „Freizeitspektakel“ (Daniel Kötter/Hannes Seidl) und den Neuen Vocalsolisten die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, Inszenierung und dargestellter Wirklichkeit in Frage. Freizeitorte wie das Schwimmbad oder das Varieté-Theater wurden als Plätze der Arbeit entlarvt während die scheinbar banalen Tagesabläufe der Sänger im Video durchaus zum Kunstprodukt mutierten. Mit Einblendungen von Zitaten aus Guy Debords „Gesellschaft des Spektakels“ sollte ein Theoriebezug zum Begriff des Spektakels geschaffen werden. Durch die performative und geräuschklangliche Interaktion von Sängern und Video entstand ein irritierend-faszinierendes Musiktheater, das die gesellschaftliche Fragestellung nach dem Verhältnis von Kunst und Alltag aufwarf.
Rupert Hubers spirituell angehauchte Vertonung „Al-Ganyy“ der 112. Sure des Korans bestand im Kern aus einer einfachen Melodie, vom SWR Vokalensemble gesungen, die von einem 55 Stimmen starken Laienchor und Klangschalen untermalt wurde. Eine fünfzehnminütige Meditation, die mit Atemgeräuschen begann, sich zu klagenden Gebetsrufen steigerte und schließlich mit den im Raum schwebenden Tönen der Klangschalen im Nichts verschwand.
Einen Kontrast dazu bot Jennifer Walshes Performance „2091“ die „eine Zukunftsvision von Stuttgart“, so die Untertitelung, wagte. Mit dem Ensemble ascolta, dem Einsatz von Stimmen, Instrumenten, Live-Elektronik, Video und pseudowissenschaftlichen Theorien entstand ein wildes, überreiztes Wort-, Bild- und Klangchaos, das sich schwerlich zu einem Ganzen zusammenfügte und damit eindrücklich die Vision einer pedantischen Erklärungssucht der Wissenschaft, der Suche nach Formeln für die (Nicht-)Ordnung der Welt sowie die Überforderung des Individuums in einer (zukünftigen?) postmodernen Welt aufzeigte.
Am Ende gilt es, einen Blick in die Zukunft zu wagen. Beansprucht das Festival doch für sich, die Zukunftsmusik zu präsentieren... Was wurde also prognostiziert? Was wie eine Anmaßung und horoskopisch exotische Voraussage anmutet, klingt so unterschiedlich, dass man sich auf die Zukunft freut: Weniger Elfenbeinturm und dafür mehr gesellschaftliche Debatte scheint sie uns zu prophezeien, die Zukunftsmusik.
Mechthild Schlumberger