Frau Dr. Monika Nöcker-Ribeaupierre, Sie arbeiten am Freien Musikzentrum in München vorwiegend mit Kindern, auch mit Frühgeborenen. Was können Sie für die tun?
Wie weit das Feld musiktherapeutischer Arbeit gesteckt ist, zeigen die folgenden Auszüge aus einer Expertendiskussion in „taktlos“ – der Live-Radiosendung von neuer musikzeitung und Bayern2Radio – vom 4. Juni 1999. Theo Geißler, Chefredakteur der neuen musikzeitung, unterhielt sich mit Monika Baumann (Musiktherapeutin an der Klinik München-Bogenhausen), Dr. Monika Nöcker-Ribaupierre (Freies Musikzentrum München München), Frauke Schwaiblmair (Vorstandsbeauftragte der Deutschen Gesellschaft für Musiktherapie, DGMT, für Ausbildung und Ethikkodex) und Christian Münzberg (Interne Klinik Dr. Argirow, Kempfenhausen). Geißler: Frau Dr. Monika Nöcker-Ribeaupierre, Sie arbeiten am Freien Musikzentrum in München vorwiegend mit Kindern, auch mit Frühgeborenen. Was können Sie für die tun? Monika Nöcker-Ribeaupierre: Kinder, die im Bauch der Mutter aufwachsen, sind einer großen Zahl von Geräuschen ausgesetzt: Herzschlag, Gefäßgeräusche, aber auch Stimmen und Musik von außerhalb. Wenn sie nun als Frühgeborene in einen Inkubator kommen, sind sie mit starken Impulsgeräuschen mit bis zu 100 dB konfrontiert, etwa von Beatmungsmaschinen. Der Inkubator dämpft die Außengeräusche überhaupt nicht. Dann kann man den Babys beruhigende Musik vorspielen, auf der Basis von Wiegenliedern. Das beruhigt sie sichtbar und messbar und hilft signifikant, ihre Entwicklung zu fördern.Klang und Wohlbefinden
Sie bekommen also konkrete Reaktionen, obwohl hier noch keine Musikerfahrung vorlag?
Nöcker-Ribeaupierre: Ja, die Babys schlafen ein oder, wenn sie älter sind, warten auf die Musik, weil sie wissen, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt kommt. Sie haben ja Klangerfahrung, das schafft einen inneren Raum, der Wohlbefinden auslöst.
Frau Baumann, Sie versorgen Patienten im Krankenhaus Bogenhausen musiktherapeutisch, laufen Sie da mit der Gitarre von Zimmer zu Zimmer und sorgen für Stimmung?
Monika Baumann: Die Musiktherapie bedeutet natürlich mehr als nur gute Stimmung zu verbreiten. Es geht uns um einen individuellen Ansatz, diese Menschen in einer schweren Phase zu begleiten
Ist das eine Rehabilitationsmaßnahme oder eine Art Kur?
Da wir in einem Akutkrankenhaus arbeiten, sind das Menschen in einem frühen Stadium der Rehabilitation, meist nach der Intensivstation oder nach einer Akutversorgung. Das heißt, sie sind noch schwer von dieser körperlichen Situation betroffen und das prägt die Arbeit mit diesen Menschen.
Frau Nöcker-Ribeaupierre, vielleicht haben Sie Fallbeispiele aus der Praxis, an denen deutlich wird, wie Musiktherapie wirkt.
Nöcker-Ribeaupierre: Um bei Frühgeborenen zu bleiben, arbeite ich mit den Müttern, mit deren Stimme. Sie werden ja zu früh von ihrem Kind getrennt, und nicht nur dem Kind geht es dabei schlecht, sondern auch den Müttern. Oft sind sie depressiv, haben Angst um ihr Kind. Das sind untersuchte und beschriebene Phänomene. Wenn man eine Stimmaufnahme von der Mutter macht und ihr sagt, diese sei für ihr Kind bestimmt, dann hilft ihr das, etwas aktiver zu werden. Sie kann über die Stimme dem Kind, von dem sie getrennt ist, etwas da lassen. Und das Kind wiederum bekommt über die Stimme einen Raum, einen Eindruck zurück, den es vorher gehabt hat. Das hilft nach meinen Erfahrungen, die unterbrochene Verbindung wieder herzustellen.
Gehen wir eine Entwicklungsstufe weiter. Sie machen ja auch Musiktherapie für Kleinkinder. Welche Bereiche sind hier von Bedeutung?
Nöcker-Ribeaupierre: Behandelt werden können alle Störungen im Bereich der sensorischen Fähigkeiten, dann der Bereich Motorik sowie alles, was mit Interaktions- und Kommunikationsstörungen zu tun hat, zum Beispiel autistische Kinder.
Haben Sie mit autistischen Kindern hier Erfolge erzielt?
Nöcker-Ribeaupierre: Ich persönlich noch nicht, solange arbeite ich noch nicht mit autistischen Kindern. Aber es gibt viele Berichte, die einen solchen Erfolg durch Musiktherapie sehr deutlich beschreiben.
Herr Münzberg, könnten auch Sie uns ein Fallbeispiel aus der klinischen Praxis beschreiben?
Christian Münzberg: Bei einem halbseitig gelähmten Schlaganfallpatienten mit Sprachstörung war zunächst als ein sehr typisches Phänomen ein starkes Getriebensein zu spüren. Das ist insofern typisch, als diese Patienten oft im Beruf stehend plötzlich inaktiv werden und den Ehrgeiz haben, möglichst schnell wieder so zu werden wie sie früher waren. Dies spiegelte sich in diesem Fall ganz deutlich in dem wider, welche Art von Musik der Patient am Beginn der Therapie machte, als der Schlaganfall zwei Monate zurück lag. Der Therapeut ist in dieser Phase oft derjenige, der dem Patienten sozusagen hinterher rennt und versucht ihn zu erreichen. Einen Monat später war er aber in der Lage, auf einem Monochord mit mir (am Klavier) zu kommunizieren. Es entstand ein Dialog und die Fähigkeit, Trauer zu empfinden.
Aphasie bedeutet ja, dass die Sprache verloren ist; um so wichtiger ist, dass die Klänge eine Verbindung mit dem Therapeuten herstellen können.
Kann man damit rechnen, dass sich solche Erfolge, wie sie Herr Münzberg beschrieben hat, einstellen?
Jeder Therapieverlauf ist natürlich sehr individuell. Es gibt zum Beispiel Patienten, die beim rezeptiven Weg bleiben, die also nur Musik hören wollen und nicht selbst aktiv werden, was wir auch akzeptieren. Bei denen, die selbst Musik machen wollen, ist allerdings sehr oft ein solcher Weg zu verfolgen: von etwas Einsamem, Isoliertem hin zu Kontakt, zum Aufbauen einer Beziehung. Das ist typisch.
Was ist das Besondere an Musiktherapie in der Gruppe?
Hier ist es wichtig, zu sehen, wie sich bestimmte Positionen und Rollen herausbilden. Wenn jemand eine Rolle innerhalb der Gruppe einnimmt, kann das heißen, dass er diese auch im Leben ausfüllt oder gerne ausfüllen würde. Dadurch können wir Rückschlüsse darauf ziehen, wie sich die Personen in ihrem Alltag bewegen. Auf der anderen Seite drücken sie natürlich auch etwas für die Gruppendynamik aus. Das ist das Besondere, wenn Patienten miteinander spielen, die eigentlich keine Erfahrung mit Instrumenten haben.
Musiker und Musiktherapie
Wie verhalten sich Musiker in ihrer Gruppe?
Oftmals sehr gesteuert. Eine Zeit lang war das eine Kontraindikation, das heißt man hat ganz bewusst Musiker nicht in Musiktherapie genommen. Mittlerweile sind wir da erfahrener und wissen, dass musikalische Vorbildung der Therapie nicht immer abträglich sein muss.
Weht der Musiktherapie von Seiten ihrer Kollegen aus der Musikpsychologie nicht ein wenig der Wind entgegen? Nehmen diese die Musiktherapie nicht ernst?
Frauke Schwaiblmair: Das sehe ich nicht so. Die Einwände, die oft erhoben werden, sind insofern richtig, als Patienten, die Musik als etwas Positives erlebt haben und mit einer gewissen Erwartungshaltung in die Therapie gehen, manchmal enttäuscht sind. Sie bekommen selten Musik vorgespielt, die etwas bestimmtes bewirkt, sondern müssen selbst etwas dafür tun und aktiv werden.
Gibt es über die Wirkungsweisen von Musiktherapie irgendwelche gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse?
Schwaiblmair: Zunehmend mehr. Sowohl langfristig gestaltete Einzelfallstudien, als auch Studien, die zeigen, dass medizinische Therapien in Verbindung mit Musik sehr viel bessere Ergebnisse erzielen, als ohne Musik.
Wird denn ihre Arbeit nicht dadurch erschwert, dass ständig irgendwelche funktionale Musik herumdudelt, dass Musik immer lauter wird und dass schließlich auch das Gehör abstumpft?
Schwaiblmair: Nicht jede Musik kann Therapie sein, weil sie nicht gezielt, also auf der Grundlage einer Diagnostik eingesetzt wird. Wenn ich mit meinen Kindern singe, ist das keine Musiktherapie, sondern wir machen Musik und haben Freude daran. Wenn aber ein Kind mit Konzentrationsstörungen in die Therapie kommt, kann ich zum Beispiel dieselben Lieder u
u bewusst einsetzen, sie zum Beispiel mit unterschiedlicher Dynamik singen lassen, den Schlusston hinauszögern oder ähnliches. Ich glaube, dass die Gleichsetzung einer klinisch eingesetzten Behandlungsmethode, wie es die Musiktherapie ist, mit irgendeiner Musikberieselung damit zusammenhängt, dass im Zuge eines „Psychobooms“ eine ganze Welle von Musik auf den Markt kommt, die quasi selbstheilend wirken soll, was aber nichts mit der fundierten Methode der Musiktherapie zu tun hat.
Ich würde das gerne ergänzen: Ich denke, dass diese Berieselung bei den Menschen auch eine Sehnsucht wachgerufen hat nach einem echten Erleben der Musik, nach einem Hineingehen in einen bestimmten Klang. Und das möchten wir auch ein Stück weit dem Musikbild unserer Gesellschaft entgegensetzen.
Wie kann die Musiktherapie sich auf der einen Seite von dem Esoterik-Schrott distanzieren und andererseits dafür sorgen, dass sie von Ärzten ernst genommen wird?
Ich denke durch Wissenschaftlichkeit. Es gibt durchaus kontrollierte Studien, auch wenn das natürlich in der Psychotherapie schwieriger ist als etwa bei einer Medikamentenstudie.
Nöcker-Ribaupierre: Wir als Musiktherapeuten haben die Aufgabe, uns sehr viel eindeutiger zu formulieren und dieser Prozess ist im Werden. Die musiktherapeutischen Verbände haben sich zusammengeschlossen und haben eine Definition ihres Faches gegeben, die sich ganz klar von anderen Therapieformen abgrenzt. Das ist unser Weg, denke ich.
Innerhalb der Institutionen, der Kliniken etwa, erleben wir immer wieder, dass die Musiktherapie für das ganze Behandlungsteam als Bereicherung und als Hilfe empfunden wird, was ich für sehr wichtig halte.
Schwaiblmair: Es gibt zunehmend mehr qualifizierende Ausbildungen. Wichtig ist, dass die Berufsbilder klarer abgesteckt und auch entsprechend honoriert werden. Nötig ist auch eine gesetzliche Absicherung des Tätigkeitsfeldes Musiktherapeut. Solange es das nicht gibt, ist es für den Patienten natürlich schwierig einzuschätzen, wer qualifiziert ist und wer nicht.
Wie verhalten sich denn die Krankenkassen?
Ambulante Behandlungen werden von den Orts- und Ersatzkrankenkassen gar nicht mehr bezahlt. Die Privaten übernehmen noch etwas, das liegt aber in deren Ermessensspielraum. Mehrere Kollegen mussten ihre Praxen schließen, weil Patienten das eben oft nicht mehr selbst bezahlen können. Im stationären Bereich wird die Musiktherapie im Rahmen des Pflegesatzes allerdings mit übernommen.
Kann man jungen Leuten überhaupt raten, diesen Studiengang aufzunehmen?
Nöcker-Ribaupierre: Jungen Menschen würde ich es überhaupt nicht raten, diesen Beruf zu ergreifen. Jeder therapeutische Beruf erfordert eine gewisse Lebenserfahrung und eine gewisse Stabilität. Man muss wissen, wie man mit sich umgeht und mit dem, was von außen auf einen hereinkommt. Musiktherapie eignet sich aber wunderbar als eine ergänzende Qualifikation, als Aufbauberuf.
Wo kann man sich über die Ausbildungsmöglichkeiten informieren?
Schwaiblmair: Von den Studenten innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Musiktherapie ist ein sehr guter Studienführer herausgegeben worden, der über die gesamten deutschsprachigen Ausbildungen informiert und auch darüber, was man als Vorwissen mitbringen sollte.
Ich denke schon, das Musiktherapie etwas ist, was junge Leute interessieren kann, etwa der im Aufbau befindliche Studiengang in Augsburg/Nürnberg. Sie brauchen eben eine bestimmte Betreuung und Begleitung und sollten vielleicht nicht mit den schwierigsten Patienten anfangen.
Und wo erfahre ich als Patient, an wen ich mich wenden kann?
Ebenfalls über die Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie, oder auch über das Freie Musikzentrum München. Es gibt auch Homepages im Internet, unter www.musik therapie.de finden Sie die Gesellschaft und unter www.musictherapy.de ist eine neue Homepage einzusehen, die auch einen Kontakt zu einzelnen Musiktherapeuten ermöglicht.