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Singe, wem ein’ Stimm’ gegeben?

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Zur musikalischen Arbeit mit Kindern
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Das bedeutet, dass der Weg der Hinführung zum auch einfachsten Singen immer länger wird; viele Kinder haben Probleme, mit ihrer Stimme auch nur halbwegs sinnvoll umgehen zu können. Eine Hinführung ist immer öfter mehr eine Reparatur an grundlegenden Funktionen. Das stellt Verantwortliche in allen Bereichen vor Schwierigkeiten, die so lange nicht einmal erahnt wurden – vor Therapeuten-Aufgaben. Darauf sind wir im überwiegenden Maß nicht vorbereitet!

Seit über 20 Jahren stehe ich in der musikalischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Ich kann – besser: ich muss leider – feststellen, dass trotz vieler blühender Gärten im Bereich der musikalisch-vokalen Kinder- und Jugendbildung auch vielfältig unbeackertes, vernachlässigtes Land, sprich: große Defizite anzutreffen sind. Seit Jahren wird die Tatsache vielfach beklagt, dass immer weniger Kinder frühkindliche Singerfahrungen haben; in Elternhäusern ist Singen längst nicht mehr Tradition – Liederrepertoires existieren meist nicht mehr, Väter, aber auch Mütter sind selbst nicht mehr in der Lage, ein singendes Beispiel zu geben oder geben zu wollen; der Ausbildungsstand für Betreuer/-innen in Kindergärten ist oft beklagenswert. Das bedeutet, dass der Weg der Hinführung zum auch einfachsten Singen immer länger wird; viele Kinder haben Probleme, mit ihrer Stimme auch nur halbwegs sinnvoll umgehen zu können. Eine Hinführung ist immer öfter mehr eine Reparatur an grundlegenden Funktionen. Das stellt Verantwortliche in allen Bereichen vor Schwierigkeiten, die so lange nicht einmal erahnt wurden – vor Therapeuten-Aufgaben. Darauf sind wir im überwiegenden Maß nicht vorbereitet! Beklagenswert? Ja! Und? Was soll das Klagen, wo wir doch auf allen Ebenen immer wieder – immer noch exzellente vokale Leistungen antreffen können!? Überall gibt es gute bis hervorragende Chöre, die uns demonstrieren, dass es auch genügend junge Leute gibt, die ihr Metier fast schon professionell beherrschen.

Aber: klagen nicht viele über oftmals mangelnden Publikumszuspruch? Ist es nicht so, dass ein Chorkonzert, wenn es anderes vorstellt als eines der bekanntesten 20 Oratorien, nicht halbwegs voll zu kriegen ist? Es sei denn, eine Chor-Struktur ist so dicht gewebt und familiär, dass man darüber kaum noch nachdenken muss... Mir scheint, dass eine Kluft entstanden ist zwischen denen, die das Singen betreiben – gerne betreiben, lieben, es auf quasi-professionellem Niveau tun – und denen, die mit Singen schlicht „nichts am Hut haben“. Es beginnt mehr und mehr eine Schicht zu fehlen, die des Singens halbwegs kundig ist, weil selbst aktiv (gewesen) – und deshalb neugierig. Und dies macht alles noch schwieriger: Viele Chorsänger interessieren sich für ihr Eigenes, sind aber nicht besonders an den Leistungen anderer interessiert – außer beim Wettbewerb.

Ortsbeschreibung: Es existiert immer noch erstaunlich viel Unten (dessen Qualitätsmerkmale allerdings oft notdürftig sind), es gibt eine immer breiter werdende Spitze, aber der Bezug zu einer großen Mitte geht mehr und mehr verloren. Eltern, deren Kinder in Chören singen, gehen ins Konzert wegen ihrer Kinder – und viele tun das auch nur in den ersten Jahren, wenn sie so etwas wie eine pädagogische Verantwortung spüren. Nach wenigen Jahren erlahmt das Interesse, weil es nur auf die Leistung des eigenen Kindes orientiert war und nicht ein Interesse für die Sache geweckt wurde. Es gibt vielerorts Gegenbeispiele – aber sie sind im Meer nicht wesentlich mehr als Schaumkronen.

Was ist zu tun?

Zunächst müssten sich vielfältig Verantwortliche in der Ausbildung über Zielsetzungen ihrer Arbeit neu orientieren – von der Kindergarten-Ausbildung bis zur Chorleiter-Ausbildung.

Die Schulung von Betreuer/-innen in Kindergärten müsste dringend dahin entwickelt werden, dass sie mit ihrer eigenen Stimme sinnvoll umgehen können; nur so können sie die Chance haben, den ihnen anvertrauten Kindern Vorbild zu sein. Wer mit seiner eigenen Stimme nicht zurechtkommt und sich beim Singen eher quält, kann beim besten Willen nicht vermitteln, wie viel Spaß das Entdecken der eigenen Stimme machen kann. Im besten Fall sollten sie ein Gefühl für Qualität und Bleibendes entwickeln können, das verhindert, dass sie mit den betreuten Kindern nur Seichtes und Pseudo-Poppiges singen (selbst erlebtes Beispiel: man holt sich ein junges keyboardspielendes Mädchen, das die Kinder mit vorfabrizierten Rhythmen und harmonisch äußerst dürftig bei pseudomodernen Adventsliedern begleitet – dafür wird dann Gutes, Sinnvolles, Bleibendes, auch Älteres erst gar nicht mehr gelernt).

Geht es dann über den Kindergarten hinaus, entdecken wir gleichartige Probleme in vielen Grundschulen; auch hier fehlen zu oft die Vorbilder, die wissend motivieren und helfen. Auch in diesem Sektor braucht es eigentlich eine neue Aufbauarbeit; hier könnten die ersten Schritte zum Singen in Richtung Chorsingen gemacht werden. Wie werden sich diese gestalten, wenn die formende Kraft fehlt? So ganz nebenbei verlieren wir immer mehr ein unschätzbares Reservoir und Repertoire an Liedern – unwiederbringlich?

Ich stelle nicht die Forderung, dass in der Grundschule bereits „geleistet“ werden sollte. Vielmehr darf es gerne ein einfaches (im Sinne von nicht schwierig statt im Sinne von simpel!) Singen sein – aber bitte, bitte so, dass ein Kind in der Lage sein kann, sich an seiner Stimme zu freuen, weil es Hilfen erhält, diese zu entwickeln. Damit ist nicht die Forderung verbunden, jede/r Grundschullehrer/-in, der/die einen Chor im Anfang betreut, müsse eine ausgebildete/r Stimmbildner/-in sein – nein; aber so viel sollte gewährleistet werden, dass das Vorbild auch ein Vorbild im Singen sein kann! Einfach, so natürlich wie möglich – und technisch eben so gekonnt wie möglich.

Es geht nicht darum, in Kindergarten und Grundschule die Talente für Kinderchöre, gar später für Erwachsenenchöre zu rekrutieren – wenn Begeisterung geweckt ist, kommt dies von selbst. Es muss uns aber darum gehen, so vielen Kindern wie möglich einen Weg zum Singen zu eröffnen; es ist nun einmal die natürlichste, kreatürlichste künstlerische Äußerung, die dem Menschen möglich ist.

An vielen Stellen unseres Landes sehen viele Kompetente dies ähnlich; es wird in der nächsten Zeit darum gehen müssen, diese An- und Einsichten zu bündeln zu einer Kraft, die nur gemeinsam etwas inhaltlich wird bewegen und viele bürokratische Hürden wird überwinden können. Eine große Hilfe wäre eine bundesweit arbeitende Stiftung „Kinder singen“...

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