Lorenz Deutsch studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften und arbeitete als Dozent für Altgermanistik an den Universitäten Köln und Düsseldorf. Seit 2004 war er Sachkundiger Einwohner im Kulturausschuss des Rats der Stadt Köln und seit 2020 kulturpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion. Von 2017 bis 2022 war er Abgeordneter im Landtag von NRW und dort Sprecher seiner Fraktion für Kulturpolitik und Weiterbildung. 2023 übernahm er die Leitung der Theodor-Heuss-Akademie in Gummersbach und den Vorstandsvorsitz des Landeskulturrats NRW.
Basishonorare sind nicht die Kirsche auf der Torte
neue musikzeitung: Seit 2005 repräsentierte Gerhart Baum den Kulturrat NRW. Obwohl längst aus der aktiven Politik ausgeschieden – Bundesinnenminister im Kabinett von Helmut
Schmidt bis 1982 –, wurde er weiterhin als Spitzenpolitiker und unermüdlicher Fürsprecher für Kunst und Kultur wahrgenommen. Sehen Sie sich selbst mehr als Geisteswissenschaftler oder als Politiker?
Lorenz Deutsch: Ich will mich nicht in eines dieser Lager schlagen. Jeder bringt seine eigenen Mischungsverhältnisse mit. Gerhart Baum hatte die Abspringhöhe als Spitzenpolitiker und war dann damit in idealer Weise vierzig Jahre lang eine Persönlichkeit, die verschiedenste Diskurse in unserer Gesellschaft aufgenommen und mit starker Meinung, Debattenkultur und Leidenschaft für klare Positionierung geprägt hat und dafür weithin respektiert wurde. Davor habe ich allergrößte Achtung und sehe ihn als Vorbild.
Zu den Hauptaufgaben
nmz: Was sind Ihre Hauptaufgaben als sein Amtsnachfolger?
Deutsch: Kommunikation darüber, was in der Kunst und Kulturszene in NRW gerade Thema ist und drängend wird. Zentrale Ansprechpartner sind die politischen Ebenen, allen voran das Ministerium für Kultur und Wissenschaft, auch Kulturpolitiker im Landtag, in den Kommunen und die Kulturverwaltungen. Wir möchten gleiche Informationsstände herstellen und Impulse aus den Szenen weitertragen, damit diese besseres Gehör finden. Ich bin ein begeisterter Aufklärer und Rationalist, auch wenn das in den letzten Jahren in der Theoriebildung der intellektuellen Avantgarde etwas in Verruf geraten ist. Aber nur mit vernunftgeleitetem Meinungsaustausch und vermittelndem Argument hält man eine Gesellschaft zusammen. Man darf sich nicht in konfrontative Lager drängen lassen, auch wenn Medien das befördern. Die Mitte der Gesellschaft muss aus ihrer Stille heraustreten und um den zivilisierten, aufgeklärten Diskursraum streiten, um ihn damit wieder größer zu machen und die lauten radikalen Ränder kleiner.
nmz: Der Kulturbegriff wurde diversifiziert, enthierarchisiert, universalisiert. Man spricht weniger von Hoch- und Subkultur als von Streitkultur, Esskultur, Weinkultur, Wohnkultur, Badekultur, Popkultur… „Kunst und Kultur“ werden meist in einem Atemzug genannt. Wo sehen Sie dennoch Unterschiede?
Deutsch: Die häufig genutzte Doppelformulierung ist ein Hinweis darauf, dass man in dieser umarmenden Bewegung „alles ist Kultur“ doch eine Eingrenzung vornehmen möchte. Man landet dann beim Kunstbegriff, der durch innerkünstlerische Debatten jedoch immer schwieriger geworden ist. Rückbezüge auf Kanon und Professionalisierung funktionieren nicht mehr. Wir können aber darüber reden, wie Kunst und Kultur rezipiert werden und für Menschen etwas sein können, was andere Funktionszusammenhänge einer Gesellschaft nicht leisten. Kunst ist ein spezifischer Diskursraum mit eigenen Mitteln, die außeralltägliche Erfahrungen zulassen, Provokationen, Verstörungen, Schönheitserfahrungen und Beglückungsmomente. Als Politiker und Veranstalter müssen wir uns fragen, ob der seit den 1970er-Jahren erhobene Anspruch „Kultur für alle!“ – so der damalige Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann – eingelöst wurde und überhaupt einlösbar ist. Wir sprechen zwar nicht mehr von „Hochkultur“, müssen uns aber fragen, ob wir in Sachen Kunst und Kultur nicht doch in einer hochkulturell definierten und segregativ wirkenden, weil akademisch geprägten und sozial bessergestellten Gemeinschaft agieren.
Der besondere Moment
nmz: Viele Musiksparten folgen keinen Marktgesetzen und erreichen nur ein Nischenpublikum. Sie geraten deswegen zunehmend unter Legitimationsdruck. Warum braucht unsere Gesellschaft dennoch Jazz, Performance, Alte und Neue Musik sowie deren öffentliche Förderung?
Deutsch: Man muss über die Leistung von Kunst für die Gesellschaft sprechen und besser vermitteln, was ein Publikum vom Besuch der verschiedenen Sparten hat. Es geht um die Pflege des Diskurses und die Bildung des Einzelnen, nicht im Sinne eines traditionellen Kanons, den man kennen muss, sondern im Sinne einer inneren Bildung, die Räume öffnet, nachdenklich macht, neue Erfahrungen, Irritation, Befremden, Überraschung, Schönheit zulässt. Hans Ulrich Gumbrecht benutzt dafür den Begriff „Epiphanie“, einen Moment, in dem uns etwas Besonderes außerhalb des Alltags begegnet. Kunst und Kultur sind ein Diskursraum, der die Erzeugung solcher Momente in besonderer Weise betreibt. Die Delegitimierung und Verächtlichmachung von vielem, was in Kunst und Kultur passiert – abschätziges Reden und Abtun als Spinnerei –, ist auch eine Abwehr solcher Irritations- und Überraschungsmomente, die einen aus vorgefertigten Dingen, Komfortzonen und Vorurteilen herausführen.
nmz: Der Kultur- und Islamwissenschaftler Thomas Bauer diagnostizierte in seinem Buch „Die Vereindeutigung der Welt“ (2019) eine zunehmende „Ambiguitätsintoleranz“. Unsere Gesellschaft verlangt in allen Lebensbereichen immer mehr Eindeutigkeit darüber, was etwas oder jemand ist.
Deutsch: Wir leben in einer enorm verunsicherten Gesellschaft. Klimawandel, internationale Verwicklungen, Kriege, Pandemie und all die gesellschaftlichen Debatten, die wir führen, haben eine trotzige Rückzugshaltung zur Folge, die all das negieren und wieder abstellen zu können glaubt, würde man nur in die „gute alte Zeit“ zurückkehren, die natürlich nie gut war, sondern bloß alt. Vielleicht trainiert uns Kunst im Aushalten von Ambiguitäten, nicht als Abhärtungs- oder Resilienztraining, sondern so, dass wir das als Öffnung und Bereicherung erleben.
nmz: Sie kennen die Kulturpolitik auf der Ebene von Kommune, Land und als Mitglied im Bundesfachausschuss Kultur der FDP. Wie sehr wird Kulturpolitik durch Parteipolitik bestimmt?
Deutsch: Im Kulturbereich gibt es wegen starker Sachorientierung viel häufiger als in anderen Politikbereichen parteiübergreifende Koalitionen. Auch hier gibt es Profilierungen, ich will das nicht idyllisieren. Aber ich erlebe häufig die Konzentration auf das Gemeinsame. Es gibt übergreifende Initiativen, Einigkeit und ungewöhnliches Abstimmungsverhalten, weil parteiliche und ideologische Interessen zurücktreten. Bei anderen Politikbereichen ist die Kulturpolitik dafür verschrien, dass sie – ähnlich wie die Sportpolitik – ihrer eigenen Logik folgt und bei allen Differenzen häufig eine eigene Fraktion bildet. Gleichzeitig basiert Demokratie auf unterschiedlichen Herangehensweisen und Konzepten. Daher müssen wir nicht jede Differenz als Streit diffamieren. Es geht um Auseinandersetzung und Wettbewerb um die besten Ideen und Lösungen. Das aber setzt prinzipielle Verständigungs- und Kompromissbereitschaft voraus. Deswegen sind ideologisch verhärtete Fronten mit Freund-Feind-Schema undemokratisch. Das zeigt sich gegenwärtig sehr bedrohlich in den USA, aber auch in Europa und Deutschland. Kunst und Kultur sind auch hierbei wichtig, weil sie die Toleranz und Anerkennung des legitimen Rechts der Mitbewerber stärken.
Es geht ums Geld
nmz: Auch bei Kunst und Kultur geht es letztlich immer um Geld. Wie abhängig sind kulturpolitische Entscheidungen von finanzpolitischen?
Deutsch: Wir kommen aus einer Phase, in der die Ausverhandlung von Kunst und Geld nicht so schwierig war, weil wir eine sehr gute wirtschaftliche Entwicklung hatten und die Finanzierung von Kunst und Kultur nicht infrage gestellt wurde, sondern sogar signifikant erhöht wurde. Gerade während Corona wurde durch Stipendien, Neustart Kultur und andere Programme sehr viel Geld aufgewandt, ohne dass das kritisch diskutiert wurde. Es gab einen breiten Konsens über den Unterhalt von Kunstschaffenden und den Erhalt kultureller Strukturen, Spielstätten und Ensembles. Nun aber werden die öffentlichen Haushalte enger und kommen immer mehr Fragen, was sich noch finanzieren lässt. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen während der Pandemie will ich eines besonders herausstellen: Die aktuelle Diskussion über Basishonorare steht im Zentrum der gegenwärtigen kulturpolitischen Agenda. In Nordrhein-Westfalen gibt es seit 2021 ein Kulturgesetzbuch, das festlegt, dass Landesförderungen sich an den Empfehlungen der Fachverbände bei der Festsetzung von angemessenen Honoraren für Künstlerinnen und Künstler orientieren sollen.
Das wird zusätzliches Geld erfordern, nicht um noch irgendeine weitere Extralocke zu drehen, sondern um endlich angemessene Bezahlung zu erreichen. Den meisten Menschen ist nicht klar, dass in Kunst und Kultur die in allen anderen Bereichen eingeführten Mindestlöhne nicht gelten. Unsere Gesellschaft nimmt seit Langem als willkommenen Mitnahmeeffekt hin, dass die Akteure hier aufgrund ihrer intrinsischen Motivation selbst dann machen, was sie machen wollen, wenn sie dafür nur schlecht bezahlt werden.
Instrument Mindesthonorare
nmz: Laut einer aktuellen Erhebung des Deutschen Musikrats beziehen 70 Prozent der professionellen Musikschaffenden große Teile ihres Einkommens gar nicht aus künstlerischer Arbeit, sondern aus Unterrichten und anderem. Die Einführung von Mindesthonoraren würde deswegen vor allem Musikschaffenden zugutekommen, die bisher schon weitgehend von ihrer künstlerischen Leistung leben, während diejenigen weniger profitieren, die ihre künstlerische Arbeit durch Unterrichten querfinanzieren. Höhere Honorare an Musikschulen würden mehr Musikschaffende erreichen und zugleich die kulturelle Bildung stärken. Sind also Mindesthonorare das richtige Instrument?
Deutsch: Dass nicht alle Kunstschaffenden ausschließlich von ihrer künstlerischen Arbeit leben können, wird dadurch nicht gelöst und kann auch kein gesellschaftliches Ziel sein. Denn nicht alle wollen das, sondern unterrichten auch gerne und arbeiten im Kreativbereich oder in völlig anderen Kontexten. Zentral an der Diskussion über Basishonorare ist, dass wenn jemand künstlerisch tätig ist und bei Projekten durch die öffentliche Hand gefördert wird, diese Arbeit zu Bedingungen leisten kann, bei denen die Gesamtgesellschaft nicht rot werden muss.
Es geht um angemessene Honorierung von Probenzeiten, Auftritten oder was sonst noch alles geleistet wird. Ich halte das für eine Selbstverständlichkeit und frage mich, wie es sein kann, dass unsere Gesellschaft es über Jahrzehnte mit sich vereinbaren konnte, all diese freiberuflich geleistete Kunst und Kultur als schön mitzunehmen, aber dafür nur ein Taschengeld weit unter den Mindesthonorarstandards zu zahlen.
Übrigens gibt es auch bei Musikschulen in NRW die Festlegung, dass Lehrende nicht mehr – was bisher die Regel ist – auf Honorarbasis beschäftigt werden sollen, sondern als Festangestellte in Voll- oder Teilzeit mit Sozialversicherung und Orientierung an Tarifabschlüssen. Die Politik hat hier Zusagen formuliert, und die müssen jetzt auch umgesetzt und entsprechend finanziell unterfüttert werden.
Gender Pay Gap
Bisher hängt viel vom Ego der Musikschaffenden ab, welche Honorare sie sich selbst bei Antragstellungen zumessen. Honorarverhandlungen mit Musikveranstaltern führen auch zu einem eklatanten Gender Pay Gap: Frauen verdienen hier rund 25 Prozent weniger als Männer. Richtwerte bei Honoraren würden dieses Missverhältnis ausgleichen. Zugleich wächst die Diskrepanz zwischen Förderbedarf und verfügbaren Fördermitteln. Das beantragte Volumen ist meist mehr als zehnmal so hoch. Kommunen, Länder und Bund können den gewachsenen Förderbedarf also schon jetzt nicht annähernd befriedigen. Wie soll das erst mit Mindesthonoraren gelingen?
Ich sehe das Land NRW in einer Vorreiterrolle gegenüber den Kommunen und dem Bund, denn es hat sich mit dem Kulturgesetzbuch selbst in die Pflicht genommen. Die Durchsetzung der Basishonorare wird den Druck auf die Kommunen stark erhöhen, weil viele Projekte nicht vom Land allein gefördert werden, sondern anteilig mit den Kommunen, deren Haushalte gegenwärtig in einer schwierigen Lage sind. Aber es hilft nichts, das Land hat sich verpflichtet und muss nun zu seiner Vorreiterrolle stehen.
Und wenn die Mittel nicht gleichzeitig erhöht werden, dann wird man die vorhandenen so einsetzen, dass man zu einer fairen Bezahlung kommt, was die Anzahl der geförderten Projekte einschränkt. Das werden anstrengende Debatten, aber wir müssen sie führen. Denn die Basishonorare sind nicht die Kirsche auf der Torte, die man sich noch zusätzlich leisten kann, wenn genug Geld da ist, sondern sie sind der Tortenboden, also die Voraussetzung, die die öffentliche Hand erst einmal garantieren soll, um dann zu fragen, was sie sich auf dieser Basis leisten kann.
nmz: Es wird besser geförderte, aber weniger Kulturveranstaltungen geben. Zugleich wollen und sollen Kunst- und Musikschaffende immer mehr wichtige Querschnittsthemen verhandeln: Diversität, Gendergerechtigkeit, Teilhabe, Inklusion, Klimakrise, Nachhaltigkeit… Drohen Kunst und Musik mit gesellschaftspolitischen Anliegen – so berechtigt diese sein mögen – überfrachtet zu werden?
Deutsch: Ich traue der Kunst zu, dass sie zu all diesen Themen eigene Positionen und Anregungen entwickelt, und zwar aus sich heraus. Weil diese Themen alle bewegen, setzen sich auch Künstlerinnen und Künstler auf ihre besondere Weise damit auseinander. Problematisch finde ich, wenn das von politischer Seite aus über Fördervoraussetzungen als Agenda in die Kunst kommt, was häufig passiert.
Künstlerische Freiheit
Dann müssen wir über die Gefährdung der Kunstfreiheit sprechen. Die Inhalte von Projekten sollen die Künstlerinnen und Künstler selbst entwickeln. Das können auch sehr direkte Reaktionen auf gesellschaftliche Prozesse sein, und ich würde mich wundern, wenn das nicht so wäre, weil Kunstschaffende auf bestimmte Dinge besonders sensibel reagieren. Aber die Kunstschaffenden müssen nicht auf Nachhaltigkeit, Rechtsradikalismus oder sonstige Fragen reagieren, sondern können auch ganz innerkünstlerische Projekte entwickeln. Es darf nicht sein, dass so etwas dann als nicht-förderfähig angesehen wird, weil es den Vorgaben von Politikern, Ministerien oder Referenten nicht entspricht.
nmz: Da sind wir wieder bei der Delegitimierung von Kunst sowohl durch Politik und Fördergeber, die immer ausdrücklicher die Berücksichtigung gesellschaftlicher Querschnittsthemen wünschen, als auch durch die Kunstschaffenden selbst, die den von Fördergebern angemeldeten Ansprüchen verständlicherweise folgen und sich danach richten, was man gegenwärtig von Kunst verlangt: „gesellschaftliche Relevanz“.
Deutsch: Die künstlerische Freiheit darf nicht eingeschränkt werden. Etwas anders sind die infrastrukturellen Rahmenbedingungen von Kultur. Denn natürlich müssen sich auch Kulturbetriebe Fragen der Nachhaltigkeit stellen. Wie betreibt man ein Museum nachhaltig? Da rede ich nicht über Inhalte, Ausstellungsprogramme oder Vermittlungsarbeit, sondern von energetischer Sanierung, Heizung und Fotovoltaik auf dem Dach. Auch Diversität ist eine betriebliche Frage. Wie sieht die Leitungs- und Personalstruktur aus? Wie die Öffentlichkeitsarbeit? Wen sprechen wir in welchen Medien an? Welche Gruppen adressieren wir? Diesen Fragen muss sich die Kultur selbstverständlich stellen. Und hier ist es auch richtig, wenn Politik diese Fragen in die Kultur hineinträgt. Das berührt aber nicht die künstlerischen Inhalte, die ich davon ganz stark abtrennen würde.
Die Unterscheidung künstlerischer Inhalte von kulturellen Rahmenbedingungen und Einrichtungen erklärt gut die gängige Formel „Kunst und Kultur“, die verschiedenes bedeuten und doch institutionell zusammenzudenken sind.
Eines der ganz großen Themen – auch für die Kultur – ist Künstliche Intelligenz. Da stellen sich anthropologische Fragen. Ist das, was wir Intelligenz und Kreativität nennen, wirklich genuin menschlich oder eigentlich auch nur ein Modus der Reorganisation vorhandener Daten, so wie eine KI aus zahllosen Daten, mit denen sie geladen wurde, neue Texte und Bilder generiert? Auch Bach, Mozart, Beethoven, Wagner haben auf der Basis dessen, was zu ihrer Zeit an Möglichkeiten verfügbar war, sehr originell rekombiniert, so dass man das als neu wahrnahm. Ich habe Zweifel an der „creatio ex nihilo“, nichts ist voraussetzungslos. Worin liegt dann die kategoriale Unterscheidung zu dem, was eine Künstliche Intelligenz macht? Vielleicht führt das zu einer großen Ernüchterung unserer Emphase, mit der wir Kunst betrachten.
nmz: Sie nannten zuvor den von Gumbrecht gebrauchten Begriff der „Epiphanie“, also die Hoffnung, in Kunst und Musik etwas Anderes, Besonderes, Einzigartiges erfahren zu können.
Deutsch: Ja, aber vielleicht kann die KI ja genauso epiphane Momente erzeugen? Wieso eigentlich nicht? Das ist für Schriftsteller und Komponisten eine enorme Herausforderung.
Mittels KI werden Texte, Bilder, Filme produziert. Das berührt bisher noch kaum die performative Dimension von Musik, Tanz und Theater, sofern Künstlerinnen und Künstler live auftretenden und nicht technisch reproduziert oder gestreamt werden.
Das Humane steckt in der Unmittelbarkeit von Live-Auftritten. Vermutlich macht es einen Unterschied, ob wir Scarlett Johansson als Avatar in einem von KI produzierten Film sehen, oder als Person live bei einer Promotour. Das hat etwas zu tun mit Einzigartigkeit, Aura, verbürgter Authentizität, Distanzlosigkeit und auch dem Risiko des Scheiterns, das auftretende Künstlerinnen und Künstlern eingehen. Darin steckt etwas, was uns vor der Herrschaft der Maschinen rettet.
nmz: Wie setzen Sie sich im Kulturrat mit den Anwendungen und Auswirkungen von KI auf Kunst und Kultur auseinander?
Deutsch: Die Auseinandersetzung mit KI war das Erste, was ich bei meiner Wahl zum Vorsitzenden angekündigt habe. Aktuell gründen wir eine Arbeitsgemeinschaft, die sich mit Chancen, Problem und Folgen von KI beschäftigt. Es ist die Stärke des Kulturrats, dass ein Aufruf durch alle Sektionen geht und wir dann viel Erfahrung und Kompetenz zusammenbekommen, um bestehende Anwendungen und Tools von KI zu bilanzieren und auch anthropologische Fragen zu diskutieren. Welche Auswirkungen hat das für unser Bildungsideal, das noch aus dem 18. Jahrhundert stammt? Welche Bedeutung hat gelerntes Wissen, wenn ich alles ständig abrufen kann? Was passiert mit unserer Weltwahrnehmung, wenn wir nichts mehr Bestimmtes aus Naturwissenschaft, Geschichte oder Musik wissen, sondern alles Wissen ins Internet ausgelagert haben? Das Smartphone gibt es seit 2007 und ist heute zu einer Körperverlängerung der meisten Menschen geworden, zur zentralen Schnittstelle zu Umwelt und Mitmenschen. Muss man aber nicht etwas wissen – von welchen Gegenständen auch immer, zum Beispiel dem „Nibelungenlied“ –, um überhaupt die Kompetenz zum Urteilen und Vernetzen zu entwickeln? Was passiert mit uns, wenn wir an die KI abgeben, was lange unser Selbstverständnis als Menschen ausmachte?
nmz: Wir sind auf Ergebnisse der Arbeitsgruppe KI gespannt.
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